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396 Zehnter Abschnitt: Das Finanzrecht.
fonds der Reichskasse ausgegeben werden; sie haben in finanzieller Bezie-
hung recht eigentlich den Charakter der Verwaltungsschuld; da aber die Be-
schaffung dieses Vorschusses in der Form der Anleihe erfolgt, so findet der Art.
73 der RV. Anwendung, d.h. es ist die gesetzliche Ermächtigung des Reichs-
kanzlers zur Ausgabe von Schatzscheinen erforderlich. Zu den unter Art. 73
fallenden Kreditgeschäften gehören folgende Arten:
l. Die Reichsanleihen !). Die darüber geltenden Rechtsgrund-
sätze sind, abgesehen von den in der RV. enthaltenen Vorschriften, für jede
einzelne Anleihe besonders festgesetzt worden; zuerst durch das Bundes-
gesetz vom 9. Nov. 1867 (BGBl. S. 157) und das Abänderungsgesetz vom 6.
April 1870 (BGBl. S. 65), durch welches an die Stelle der amortisierbaren
Anleihe die konsolidierte Anleihe (Rente) gesetzt wurde. Diese Bestimmungen
wurden auf alle folgenden Anleihen für anwendbar erklärt. Endlich wurden
die Rechtsvorschriften über die Reichsanleihen inderReichsschulden-
ordnung v. 19. März 1900 (RGBl. S. 129) zusammengefasst ?) und für alle
nach Erlass dieses Gesetzes auszugebenden Anleihen für anwendbar erklärt.
Unter den Rechtsvorschriften sind drei Gruppen von Rechtssätzen zu unter-
scheiden, welche man als die verfassungsrechtlichen, privatrechtlichen und
verwaltungsrechtlichen bezeichnen kann.
a) Die verfassungsrechtlichen Grundsätze. Die Auf-
nahme einer Anleihe ist der Abschluss eines privatrechtlichen Geschäfts, also
ein Verwaltungsakt; sie kann niemals und unter keinen Umständen ein Akt
„der Gesetzgebung‘ sein, weil es sich gar nicht um einen einseitigen Willens-
akt des Staates, sondern um einen Vertrag des Fiskus mit Dritten handelt.
Eine Anleihe ‚‚beruht‘‘ daher niemals auf einem Gesetz und sie wird niemals
„durch ein Gesetz‘ oder ‚im Wege eines Gesetzes‘ aufgenommen, wenn-
gleich Art. 73 sich dieses inkorrekten Ausdrucks bedient, sondern stets im
Wege der Verwaltung und in der Form des bürgerlichen Rechtsverkehrs. Der
Sinn des Art. 73 ist vielmehr der, dass die Regierung für den Verwaltungsakt
der Kreditbeschaffung die im Wege der Gesetzgebung zu erteilende Zustim-
nung des Bundesrats und Reichstages bedarf. Ein solches ‚Anleihegesetz‘““
enthält daher keinen Rechtssatz und ist kein Gesetz im materiellen Wortsinne,
sondern eine Ermächtigung der Reichsregierung zur Vornahme eines Ver-
waltungsgeschäftes. In Uebereinstimmung hiermit steht an der Spitze der
Reichsschuldenordnung der Satz, dass die Bereitstellung der ausserordent-
lichen, im Wege des Kredits zu beschaffenden Geldmittel ‚auf Grund
einer gesetzlichen Ermächtigung des Reichskanzlers erfolgt durch Auf-
nahme einer verzinslichen Anleihe oder durch Ausgabe von Schatzanwei-
sungen“. Die Ermächtigung des Reichskanzlers ist in dreifacher Richtung
beschränkt; erstens hinsichtlich der Höhe der zu beschaffenden Summe, so-
dann ob die Geldbeschaffung in Form der Anleihe oder der Schatzscheine
erfolgen soll, endlich durch die Vorschrift, dass die Anleihe eine konsolidierte,
d.h. keiner regelmässigen Tilgung unterliegende, Rentenschuld sein soll. So
1) @G. S. Freund, Die Rechtsverhältnisse «der öffentl. Anleihen. Berlin 1907.
2) Sie ist ergänzt worden durch das RG. v. 22. Febr. 1904 (RGBl. S. 66).