& 45 Die Finanzwirtschaft des Reiches. I. Allgemeine Charakteristik. 4ul
des Staatenbundes; in die Verfassung des Norddeutschen Bundes sind sie
aus der alten Bundesverfassung als ein provisorischer Notbehelf überge-
gangen.
Durch den Beitritt der süddeutschen Staaten und durch die Entwick-
lung des Finanzwesens des Reiches ist die sozietätsmässige Wirtschaft
nicht verlassen, sondern im Gegenteil weiter ausgebildet worden. Durch die
den süddeutschen Staaten eingeräumten Sonderrechte auf dem Gebiete des
Post- und Telegraphenwesens und der Verbrauchsabgaben und durch die be-
sondere Stellung Bayerns in betreff des Militär-, Eisenbahn- und Heimat-
wesens sind Komplexe von Einnahmen und Ausgaben gebildet worden, an
denen nicht sämtliche Staaten gleichmässig beteiligt sind. Dasselbe ist in an-
deren Beziehungen durch die Verhältnisse Elsass-Lothringens herbeigeführt
worden. Namentlich ist aber ein prinzipiell entscheidender Schritt durch die
sogen. Frankensteinsche Klausel geschehen, d. h. durch die An-
ordnung, dass der grösste Teil der Zölle und die Erträge der Tabak-, Stempel-
und Branntweinsteuer unter die Einzelstaaten verteilt und die Ausgaben des
Reichs durch Matrikularbeiträge gedeckt werden!). Die unerträglichen
Missstände, welche diese Anordnung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen
der Finanzwirtschaft des Reiches und der der Einzelstaaten herbeiführten,
haben endlich dazu geführt, die Ueberweisungen von Reichseinnahmen an
die Bundesstaaten hinsichtlich der Zölle und der Tabaksteuer aufzuheben und
den Widerspruch mit Art. 70 der RV. zu beseitigen, indem die Worte ‚solange
Reichssteuern nicht eingeführt sind‘ gestrichen wurden. Siehe unten unter
VIII. Durch die Einführung neuer Reichssteuern, deren Erträge den Ein-
zelstaaten nicht überwiesen werden, ist wieder eine Annäherung an das Sy-
stem der selbständigen und korporativen Finanzwirtschaft des Reiches er-
folgt. Die Steuergesetze von 1909 haben die Ucberweisung nur noch bei der
Abgabe von Branntwein beibehalten, weil die Verteilung derselben nach der
Größe der Bevölkerung die Bedingung war, unter welcher die süddeutschen
Staaten in die Steuergemeinschaft eingetreten sind; im übrigen ist die Fran-
kensteinsche Klausel beseitigt worden.
I. Die Einnahmequellen des Reichs. Nach dem Art. 70
der RV. (in der jetzigen Fassung) sind ‚‚gemeinschaftliche‘“ Einnahmen des
Reichs, welche zur Bestreitung ‚‚aller gemeinschaftlichen Ausgaben dienen“,
die Erträge der Zölle und gemeinsamen Steuern und die aus dem Eisenbahn-,
Post- und Telegraphenwesen, sowie aus den übrigen Verwaltungszweigen flies-
senden Einnahmen. Auch können ‚‚etwaige‘‘ Ueberschüsse aus den Vorjahren
hinzukommen. Da die gewerbsmässigen Betriebe und die Verwaltungszweige
des Reiches bereits im Vorstehenden dargestellt sind, so bedürfen einer selb-
ständigen Erörterung an dieser Stelle nur die Zölle und Verbrauchssteuern,
die Stempelabgaben und die 1906 und 1909 neu eingeführten Steuern.
Nicht alle Staaten nehmen an diesen Einnahmen teil. Nicht beteiligt
1) RG. v. 15. Juli 1879 $8 und v. 24. Mai 1885 (RGBl. S. 111) 88. Ueber die schäd-
lichen Folgen dieser Einrichtung, durch welche die Reichsinteressen der Machtbegier
der Reichstagsfraktionen zum Opfer gebracht wurden, vgl. mein Staatsr. d. D. R. Bi.
IV. 8. 378 £f., 478 Note 1 und D. Juristenzeitung 1902 S. 1 ff.
Laband, Reichsstaatsrecht. 6. Aufl. 26