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ein Verzicht auf dieses Sonderrecht enthalten. Wenn daher im Bundesrat die
Stimme des berechtigten Staates unter der, dem Gesetz zustimmenden
Majorität sich befindet, so ist dies zur rechtsgültigen Beseitigung des Sonder-
rechts genügend. Die Zustimmung des Landtages des berechtigten Einzel-
staates ist nicht erforderlich; bei allen Gesetzgebungsakten des Reichs wird
der Wille der Bundesstaaten durch ihre Abstimmung im Bundesrat erklärt.
Ein unter Beobachtung der Vorschriften des Art. 78 zustande gekommenes
Reichsgesetz hat demnach verbindliche Kraft, auch wenn der Landtag des
Einzelstaates, dessen Sonderrechte beseitigt werden, gegen die Aufhebung
derselben protestiert hat.
Ein Landesgesetz, welches verordnet, dass der Verzicht auf ein
Sonderrecht nur nach vorgängiger Genehmigung des Landtags erfolgen dürfe,
würde der Wirksamkeit eines verfassungsmässig erlassenen Reichsgesetzes
keinen Abbruch tun, würde aber innerhalb des betreffenden Einzel-
staates die Verantwortung der Regierung begründen.
3. Rechte der Bundesstaaten als Einzelner (jura
singulorum). Hierhin gehören alle diejenigen Hoheitsrechte und Vermögens-
rechte, welche ausserhalb der Grenzen der Reichskompetenz liegen. Da die
Feststellung dieser Grenzen dem Reich ausschliesslich zusteht, sohabendiese
Rechte nicht die Eigenschaft der jura quaesita; sie können im Wege der
Reichsgesetzgebung dem Einzelstaate ohne seine spezielle Zustimmung ent-
zogen werden. Aber solange die Rechtssphäre des Reiches durch eine be-
stimmte Linie abgegrenzt ist, kann jeder einzelne Staat verlangen, dass sich
die Reichsgewalt eines Uebergriffs in das jenseits dieser Linie liegende Gebiet
enthalte. Dies gilt nicht nur von der verfassungsmässig festgestellten Kom-
petenz, über welche hinaus auch die Reichsgesetzgebung sich nicht erstrecken
darf, ohne dass den Erfordernissen der Verfassungsänderung Rechnung ge-
tragen wird; sondern ebenso auch von der durch gewöhnliche Reichsgesetze
näher bestimmten Sphäre der Selbstverwaltung und Landesgesetzgebung,
welche der Bundesrat bei seinen Verordnungen und der Reichskanzler, sowie
alle übrigen Reichsbehörden bei ihren Verfügungen respektieren müssen.
$ 7. Die Existenz der Einzelstaaten. Die Reichsverfas-
sung setzt autonome Staaten als Mitglieder des Reiches voraus und — wie
oben ausgeführt worden ist — stellt die Gesamtheit dieser Staaten die publi-
zistische Persönlichkeit des Reiches, den Träger der Reichsgewalt dar. Es
entsteht daher die Frage, inwieweit die Fortexistenz der einzelnen Staaten
durch die Reichsverfassung geboten oder gewährleistet ist. Hier ist nun zu-
nächst zu bemerken, dass nach Art. 78 der RV. das Reich seine Kompetenz
im Wege der Gesetzgebung so weit ausdehnen kann, dass die Autonomie der
Einzelstaaten bis zur Inhaltlosigkeit zusammenschrumpfen und die letzteren
ihre Lebensfähigkeit einbüssen würden. Allein nach dem Prinzip der Gleich-
heit müsste dies alle Staaten gleichmässig treffen und es muss als unzulässig
erachtet werden, dass einzelnen Staaten ohne ihre Zustimmung Hoheits-
rechte entzogen werden, welche den übrigen Staaten verbleiben. Daraus
folgt, dass um so weniger einzelne Staaten ohne ihre Zustimmung ganz