438 Zehnter Abschnitt: Das Finanzrecht. s 46
obwaltet, so kann dasselbe ebensowohl auf seiten des Reichstags oder auf
seiten des Bundesrates wie auf seiten der Reichsregierung (des Reichskanz-
lers) liegen. Es kann daher nur irreführend sein, wenn man den tatsächlichen
Zustand, dass ein Etatsgesetz nicht vorhanden ist, als eine Verfassungs v e r-
letzung bezeichnet, da in diesem Worte stets das Moment subjektiven
Verschuldens mit enthalten ist. Die Frage muss vielmehr ganz objektiv ge-
stellt und beantwortet werden: Welche Rechtsregeln gelten für die Verwal-
tung der Einnahmen und Ausgaben des Reiches, wenn bei Beginn des Etats-
jahres das im Art. 69 der RV. vorgeschriebene Etatsgesetz nicht vorhanden
ist? In der Praxis des Reiches hat man bisher, wenn ein solcher Fall eintrat,
eine Aushilfe dadurch geschaffen, dass man den Etat der abgelaufenen Wirt-
schaftsperiode für einen Monat erstreckte !). Derartige Gesetze enthalten kei-
nen wirklichen Etat, sondern begnügen sich, bei den einzelnen Kapiteln und
Titeln der Ausgaben und bei den Matrikularbeiträgen ein Zwölftel der An-
sätze des prolongierten Jahresetats auszuwerfen „bis zur gesetzlichen Fest-
stellung des Reichshaushalts-Etats für das Etatsjahr ... . und vorbehaltlich
der Aenderungen, welche durch diese Feststellung sich ergeben“. DenVor-
schriftender RV.wirddurchdiesesAuskunftsmittel
nicht genügt; denn Art 69 verlangt, dass ‚alle Einnahmen und Aus-
gaben für jedes Jahr veranschlagt werden‘; er kennt weder ‚„Monats-Etats“
noch Etatsgesetze, welche bloss die Ausgaben und die Matrikularbeiträge be-
treffen. Ein Wirtschaftsplan für die Verwaltung des Reichs ist in einem solchen
Gesetz nicht enthalten und der Rechnungsprüfung kann es nicht zugrunde
gelegt werden. Ein solcher Monatsetat ist ohne alle staatsrechtlichen Wir-
kungen; er ist lediglich eine Konzession an ein Vorurteil einer politischen
Doktrin. Indessen, wenn man hiervon absehen und die provisorische Er-
streckung des letzten Etatsgesetzes für die korrekte und dem ‚‚konstitutionel-
len Prinzip‘ entsprechende Abhilfe anerkennen will, so ist damit die Frage
keineswegs abgetan; denn so gut wie das Etatsgesetz selbst kann auch das
Gesetz betreffend die vorläufige Erstreckung des vorigen Etats an Hindernis-
sen aller Art scheitern.
Geht man von der Vorstellung aus, dass das Budgetgesetz die alleinige
und ausschliessliche gesetzliche Grundlage für die Finanzwirtschaft sei, dass
nur durch das Budget-Gesetz die Regierung staatsrechtlich ermächtigt werde,
Ausgaben zu leisten und Einnahmen zu erheben, so kommt man folgerichtig
zu dem Resultat, dass, wenn ein Budgetgesetz nicht zustande kommt; die
Finanzwirtschaft, d. h. überhaupt die staatliche Tätigkeit, still stehen muss.
An dieser absurden Konsequenz erweist sich die Unrichtigkeit der Theorie;
denn sie bedeutet die Desorganisation und Auflösung des Staates. Hält man
dagegen an der Bedeutung des Etatsgesetzes, wie sie in den vorhergehenden
Erörterungen dargelegt worden ist, fest, nämlich dass die Regierung im Vor-
aus von ihrer Verantwortlichkeit entlastet wird, soweit sie sich innerhalb der
1) RG. v. 26. März 1877 (RGBl. S. 407). RG. v. 30. März 1878 (RGBl. 8. 9). RG. v.25.
März 1904 (RGBl. S. 145); v. 31. März 1906 (RGBI. S. 443); v. 25. März 1907 (RGBl. S. 83)
usw.