4414 Zehnter Abschnitt: Das Finanzrecht. 8 47
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den Reichskanzler herbeigeführt werden. Als solche ist im allgemeinen der
Bundesrat anzusehen, da er nach Art. 7 Ziff. 3 der RV. ‚über Mängel,
welche bei der Ausführung der Reichsgesetze oder der allgemeinen Verwal-
tungsvorschriften und Einrichtungen hervortreten‘‘, Beschluss zu fassen hat.
Soweit jedoch die Monita sich auf die Ausführung von Anordnungen beziehen,
zu deren selbständigem Erlass der Kaiser reichsgesetzlich ermächtigt ist, was
namentlich hinsichtlich der das Militär- und Marinewesen betreffenden Ein-
richtungen Platz greift, so ist der Zweifel durch eine kaiserliche Kabi-
nettsordre zu entscheiden. Wenn andererseits Vorschriften in Frage stehen,
an deren Erlass der Reichstag eine Mitwirkung gehabt hat, was von allen
vom Reichstage zum Gegenstande einer Beschlussfassung gemachten Po-
sitionen des Reichshaushaltsetats gilt, ist auch die Entscheidung des Reich s-
tages über die Erteilung oder Versagung der Decharge herbeizuführen.
4. Von den erwähnten kaiserlichen Entscheidungen über Meinungsver-
schiedenheiten zwischen dem Rechnungshof und dem Reichskanzler sind zu
unterscheiden die sogen. Jjustifizierenden Kabinettsordres
des Kaisers, durch welche die Niederschlagung einer Einnahme, welche nach
den bestehenden Vorschriften zu erheben ist, oder die Leistung einer Ausgabe.
welche nach den bestehenden Vorschriften nicht geleistet werden soll, ge-
nehmigt wird !). Die Hauptanwendungsfälle sind Erlasse von Steuern, Gebüh-
ren, Konventionalstrafen, Rückerstattungen und Schadensersatzleistungen,
sowie die Gewährung von Unterstützungen, Beihilfen, Entschädigungen. Es
handelt sich hierbei um finanzielle Gnadenakte; nicht um Anwendung und
Auslegung von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften, sondern um Liberali-
tätshandlungen (Schenkungen). Was nun die Frage nach der Zulässigkeit
solcher Kabinettsordres anlangt, so ist die Ansicht abzuweisen, dass die in
Preussen geltenden Grundsätze auch auf die Reichsverwaltung Anwendung
finden; denn während für Preussen die Machtfülle des absoluten Königtums
den Ausgangspunkt bildet und das Recht des Monarchen zu adniinistr. Gna-
denakten in Kraft geblieben ist, soweit es nicht durch die Verfassung eine
Beschränkung erlitten hat, bildet für den Inhalt der kaiserlichen Rechte die
davon wesentlich verschiedene Stellung des Bundespräsidiums die Grundlage.
Andererseits ist die Ansicht ebenso unhaltbar, dass das Recht der finanziellen
Gnadenbewilligungen mit der Feststellung des Etats im Wege der Gesetzge-
bung unvereinbar sei. Denn im Etat werden die Gesamtsummen ge-
wisser Arten von Einnahmen und Ausgaben veranschlagt; die konkreten
einzelnen Fälle, indenen Einnahmen zu erheben oder Ausgaben zu leisten
sind, werden vom Etatsgesetz nicht betroffen. Vielmehr ist davon auszugehen,
dass dem Kaiser als dem Führer der Regierungsgeschäfte und dem höchsten
Chef der Verwaltung alle diejenigen Befugnisse zustehen, welche in dem Wesen
der Verwaltung begiündet sind. Hiernach können Reichsgesetze nicht durch
1) Verl. Joelin Ifirths Annalen 1888 S. 805 f£., 1891 S. 417 ff., 1892 8. 283 ff.
Meine Krörterungen im Staatsr. d. D. Reichs Bd. IV 8. 525 ff. und im Archiv f.
öffentl. Recht Bd. VII S. 169 ff. (1592) ‚Das Gnadenrecht in Finanzsachen nach pre us-
siscehem Recht“. Curtius in Mirths Annalen 1893 8. 670 ff. -, ...ı4&
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