s 47 Die Rechnungskontrolle und Entlastung der Verwaltung. 445
Erlasse des Kaisers ausser Kraft gesetzt werden und zwar auch nicht im ein-
zelnen Falle. Das sogen. Dispensrecht ist mit der formellen Gesetzeskraft
unvereinbar; der Kaiser kann daher nicht Einnahmen erlassen, deren Er-
hebung durch zwingenden Rechtssatz vorgeschrieben ist, z. B. Zölle,
Abgaben und Gebühren, ausser in den gesetzlich vorbehaltenen Fällen. Inso-
weit dagegen für den Staat Ansprüche begründet sind, zu deren Geltendma-
chung keine Rechtspflicht besteht, z. B. Konventionalstrafen, Ersatzan-
sprüche u. dgl., kann der Staat auf dieselben ebenso gut verzichten wie der
Einzelne, wenn die Geltendmachung hart und unbillig wäre. Diese disp o-
sitiven Ansprüche des Reichsfiskus unterliegen daher der Niederschlagung
im Gnadenwege !).
5. Die Aufgabe des Rechnungshofes ist nicht darauf beschränkt, die
Finanzverwaltung im Verwaltungsinteresse zu kontrollieren und zu revidieren,
sondern auch unterdenoberstenÜOrganen des Reiches selbst den
grossen Schlussakt der ganzen Finanzverwaltung, die definitive Legung und
Abnahme der Rechnung über den Staatshaushalt vorzubereiten. Art. 72 der
Reichsverf. verpflichtet den Reichskanzler ‚über die Verwendung aller Ein-
nahmen des Reichs dem Bundesrate und dem Reichstage zur Entlastung jähr-
lich Rechnung zu legen“. Der Reichstag ist nicht in der Lage, die ihm vor-
gelegte Rechnung über den Reichshaushalt selbständig einer in die Einzel-
heiten gehenden Revision zu unterziehen; vielmehr sollen die vom Rechnungs-
hofe geleisteten Revisionsarbeiten dem Reichstage nutzbar gemacht werden.
Demgemäss sind nebst der allgemeinen Rechnung über den Jahreshaushalt des
Reichs die Bemerkungen des Rechnungshofes, welche derselbe unter selbst-
ständiger unbedingter Verantwortlichkeit aufzustellen hat, dem Reichstage
mit vorzulegen. Die Bemerkungen haben sich zu erstrecken auf die kalkula-
torische Uebereinstimmung der allgemeinen Rechnung mit den vom Rech-
nungshofe revidierten Kassenrechnungen; auf die etwaigen Abweichungen der
Verwaltungsbehörden in Finanzsachen von gesetzlichen Vorschriften und auf
die Abweichungen der tatsächlich erfolgten Einnahmen und Ausgaben von
den Etatssätzen. Der Rechnungshof hat diesen Bemerkungen eine Denk-
schrift beizufügen, welche die hauptsächlichsten Ergebnisse der von ihm vor-
genommenen Prüfung übersichtlich zusammenfasst.
Bundesrat und Reichstag erteilen die Decharge jeder besonders. Weder
der Bundesrat noch der Reichstag dürfen dem Reichskanzler die Decharge
verweigern, wenn sie begründete Ausstellungen an der ihnen vorgelegten
Rechnung nicht zu erheben vermögen; denn das Recht auf Erteilung der
Entlastung ist das Korrelat der Pflicht zur Rechnungslegung. Die Rechts-
1) Da die Militärverwaltung den Einzelstaaten überlassen ist, so sind die finan-
ziellen Gnadenakte im Bereich dieser Verwaltungen von den Königen von Preussen,
Sachsen und Württemberg für ihre Kontingente zu bewilligen und von den betreffenden
Kriegsministern zu kontrasignieren, vgl. mein Staatsrecht IV S. 529 ff. und
Drucksachen des Reichstags 1890/91 Nr. 463. Den. Kaiser steht aber die Ueber-
wachung dieser Kontingentsverwaltungen zu und der Reichskanzler ist
für dieselbe verantwortlich; insbesondere auch in der Richtung, dass
mit solchen Gnadenakten kein Missbrauch getrieben wird und dass durch sie nicht Reichs-
interessen verletzt werden.