g9 Die Reichsangehörigen. 43
staaten abgenommen hat, um sie selbst an ihrer Stelle auszuüben, für die An-
gehörigen der Staaten. Die Bürger des Einzelstaates haben daher gegen die
Reichsgewalt Untertanenpflichten und staatsbürgerliche Rechte. Aus dem
Grundprinzip, dass das Reich eine staatliche Einigung der deutschen Staaten
ist, ergibt sich, dass das Staatsbürgerrecht das primäre Verhältnis ist
und ohne weiteres das Reichsbürgerrecht nach sich zieht. Wer Bürger eines
zum Reich gehörenden Staates ist, der bedarf keines besonderen Erwerbs-
aktes, um das Reichsbürgerrecht zu erlangen; er nimmt als Mitglied seines
Staates am Reiche teil. Er kann aber nicht Reichs-Angehöriger sein, ohne
einem deutschen Einzelstaat anzugehören; das Staatsbürgerrecht ist die
wesentliche Voraussetzung zur Erlangung des Reichsbürgerrechts; es gibt
keine Naturalisation durch das Reich unmittelbar. Nur für die Ausländer,
welche in den Schutzgebieten sich niederlassen, sowie für die Eingeborenen
dieser Gebiete hat das Reichsgesetz vom 15. März 1888 $ 6 eine Ausnahme
gestattet, indem die Reich s angehörigkeit ihnen vom Reichskanzler oder
von einem vom Reichskanzler ermächtigten Beamten erteilt werden kann.
Da die Angehörigkeit zu einem Einzelstaat hierdurch nicht begründet wird,
entsteht durch eine solche Naturalisation eine unmittelbare Reichs-
angehörigkeit, die aber auch keine blosse Reichsangehörigkeit, sondern
mit der Schutzgebietsangehörigkeit verbunden ist !). Ebensowenig kann die
Reichsangehörigkeit für denjenigen fortdauern, der aufgehört hat, einem
deutschen Staate anzugehören; man kann nicht das Reichsbürgerrecht sich
vorbehalten, wenn man die Staatsangehörigkeit aufgibt oder verliert 2). Da-
gegen kann die Staatsangehörigkeit wechseln, während das Reichsbürgerrecht
unverändert bleibt, wenn der Einzelne nur nicht aus dem Kreise der zum
Reiche verbundenen Staaten ausscheidet; wer in einen andern deutschen
Staat überwandert, rückt nur an ein anderes Glied derselben festgeschlossenen
Kette. Eine Veränderung der souveränen Staatsgewalt, welcher er unter-
worfen ist, vollzieht sich für ihn nicht; nur die mit Autonomie und Selbst-
verwaltung ausgestattete Unter-Staatsgewalt wird vertauscht. Es kann des-
halb jemand gleichzeitig mehreren deutschen Staaten angehören. Da die
wesentlichsten politischen Interessen für alle dieselben sind, so kann die gleich-
zeitige Zugehörigkeit zu mehreren deutschen Staaten keine erhebliche Kol-
lision der Pflichten der Treue und des Gehorsams begründen. Es fallen daher
die aus der ethischen Natur des Staatsbürgerverhältnisses entnommenen
Gründe, welche regelmässig es ausschliessen, dass jemand gleichzeitig mehreren
Staaten angehört, für die im Deutschen Reich verbundenen Staaten fort.
Hiermit im Zusammenhange steht der Rechtssatz, dass jeder Angehörige
eines deutschen Staates in jedem anderen deutschen Staate, in welchem er
seine Niederlassung bewirkt, die Aufnahme als Staatsbürger verlangen kann °).
I. Pflichten. Die Reichsangehörigen haben gegen das Reich die-
1) Seydel, Bayr. Staatsr. I S. 294 Anm. 4.
2) Reichsgesetz v. 1. Juni 1870. $ 1: „Die Bundesangehörigkeit wird durch die
Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaate erworben und erlischt mit deren Verlust.‘
3) RG. v. 1. Juni 1870. $7. RGBI. S. 356.