Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

48 Dritter Abschnitt: Die natürlichen Grundlagen d. Reiches. (Land u. Volk.) $9 
  
hörige des Bundes einer verschiedenen rechtlichen Behandlung unterworfen 
werden. Demgemäss hört die praktische Bedeutung des Art. 3 in demselben 
Masse auf, als die Ausbildung des gemeinen Rechtes fortschreitet. Die Gesetze 
über die Freizügigkeit, über den Unterstützungswohnsitz, über die Gewährung 
der Rechtshilfe, über die Beseitigung der Doppelbesteuerung, die Gewerbe- 
ordnung, das Strafgesetzbuch, das Gcrichtsverfassungsgesetz, die 3 Prozess- 
ordnungen, die Rechtsanwaltordnung, die Gerichtskosten- und Gebühren- 
gesetze, das Bürgerliche Gesetzbuch und die anderen das Privatrecht betref- 
fenden Reichsgesetze usw. haben matcriell die Voraussetzungen und Bedin- 
gungen der Niederlassung, des Gewerbebetriebes, des Rechtsschutzes und der 
Rechtsverfolgung für alle Deutschen und für das ganze Reichsgebiet einheit- 
lich und gleichmässig geregelt, und es ist daher in diesen Matcrien die recht- 
liche Möglichkeit gar nicht mehr vorhanden, dass für die Angehörigen eines 
einzelnen Staates günstigere oder überhaupt andere Vorschriften als für die 
Angehörigen der übrigen deutschen Staaten bestehen. Dagegen hat der Art. 3 
der RV. noch jetzt Bedeutung für diejenigen Materien des öffentlichen und 
des bürgerlichen Rechts, welche noch nicht reichsgesetzlich normiert sind }). 
Ein Rechtsverhältnis irgend welcher Art zwischen den Angehörigen der 
deutschen Bundesstaaten und dem Reich wurde durch Art. 3 der RV. in kei- 
nem Falle begründet; namentlich kann ein „Reichsbürgerrecht‘‘ daraus nicht 
hergeleitet werden ?). 
Eine wichtige Ergänzung und Fortbildung hat der Art. 3 der RV. durch 
das Gesetz vom 6. Juni 1870 über den Unterstützungswohnsitz, 
welches durch das RG. vom 30. Mai 1908 (RGBl. S. 377) abgeändert worden 
ist, erhalten. Dieses Gesetz geht im Gegensatz zu dem Gesetz über den Er- 
werb und Verlust der Staatsangehörigkeit von der einheitlichen Reichsange- 
hörigkeit aus, legt der Staatsangehörigkeit gar keine Bedeutung für den An- 
spruch auf Armen- und Krankenpflege bei und knüpft den Erwerb des sogen. 
Unterstützungswohnsitzes, abgeschen von den familienrechtlichen Erwerbs- 
titeln der Abstammung und Verehelichung, an einjährigen ununterbrochenen 
Aufenthalt innerhalb des Ortsarmenverbandes nach zurückgelegtem sech- 
zchnten Lebensjahre ®). 
Im Zusammenhange mit dem Indigenat und dem in Art. 3 der RV, 
anerkannten Grundsatz der Freizügigkeit steht das reichsgesetzliche Verbot 
der Doppelbesteuerung*). Ein Deutscher darf zu den direkten 
Staatssteuern nur in demjenigen Bundesstaat herangezogen werden, in wel- 
  
1) Es ist bestritten, ob der Grundsatz des Art. 3 auch auf jurist. Personen an- 
wendbar ist. Die Frage ist wohl zu verneinen, weil Art. 3 dein Worte ‚Angehörige‘ 
ausdrücklich die Worte ‚„Untertan, Staatsbürger“ in parenthesi beifügt und dadurch 
interpretiert. Vgl. Seydel, Kommentar S. 55fg, dem auch Zorn, I. 349, G. 
Meyer $ 214, Note 3 u Dambitsch 8. 72 zustimmen. And. Ansicht Isay, 
Die Staatsangeh. jurist. Personen 1907 (Abh., herausg. von Zorn u Stier-Somlo Bd. 3 
Heft 2). 
2) Einen verfehlten Versuch hierzu unternimnit Hesse, ‚Gibt es eine unmittel- 
bare Reichsangehörigkeit ?'“ Jena 1905 (Leipz. Diss.). 
3) RG. v. 30. Mai 1908 $$ 9. 10. Bayern ist von dem Geltungsbereich des Gesetzes 
ausgeschlossen. 
4) Bundesges. v. 13. Mai 1870 (BGBl. S. 119); es ist ersetzt worden durch das RG. 
v. 22. März 1909 (RGBl. 8. 332).
	        
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