Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

8 9 Die Reichsangehörigen. 49 
  
chem er seinen Wohnsitz hat, eventuell in welchem er sich aufhält!). Aus- 
genommen sind die Grund- und Gewerbesteuer, welche nur in demjenigen 
Bundesstaat erhoben werden dürfen, in welchem der Grundbesitz oder die 
Betriebsstätte liegt. 
V.Das Staatsbürgerrecht im Einzelstaat ist, wie sich aus vor- 
stehenden Erörterungen ergibt, durch die Zusammenfassung der deutschen 
Staaten zu einem Gesamtstaat nicht beseitigt worden; es bildet im Gegenteil 
die unerlässliche Grundlage und Voraussetzung des Reichsbürgerrechts. Die 
einzelnen Staaten wären keine Staaten mehr, wenn sie keine Staatsbürger 
hätten, und das Reich wäre kein Bundesstaat, sondern ein Einheitsstaat, 
wenn das Staatsbürgerrecht in dem Reichsbürgerrecht untergegangen wäre. 
Im allgemeinen ist, wie bereits hervorgehoben, für das Verhältnis des 
Staats- und Reichsbürgerrechts die Kompetenzgrenze zwischen Staats- und 
Reichsgewalt massgebend. Im einzelnen folgt daraus: | 
1.Die Gehorsamspflicht besteht den Einzelstaaten gegenüber, 
soweit dieselben im Besitz staatlicher Hoheitsrechte geblieben sind ; ebenso ist 
der Angehörige eines Staates dem selben zur Treue verpflichtet. 
2. Der Staatsbürger hat seinem Heimatstaat gegenüber Anspruch 
auf Schutz im Auslande, und zwar auch in den Gebieten der übrigen 
Bundesstaaten, soweit der Einzelstaat rechtlich und faktisch noch in der 
Lage ist, diesen Schutz zu gewähren. Die Staaten können sowohl im Reichs- 
Auslande als im Reichs-Inlande bei den anderen Bundesstaaten Gesandt- 
schaften, im Reichsgebiet auch Landeskonsulate halten, was auch teilweise 
geschieht. Denselben liegt die Vertretung der Privatinteressen ihrer Staats- 
angehörigen ob. 
3. Das Recht der Angehörigen jedes Staates, in dem Gebiet des- 
selben und unter seinem Schutz leben zu dürfen, 
besteht prinzipiell fort. In einigen Fällen aber ist das Wohnrecht im Gebiet 
des einzelnen Staates durch das Wohnrecht im Bundesgebiet modifiziert 
worden, so dass dem Angehörigen eines Staates der Aufenthalt im Gebiet 
seines Heimatstaates, aber nicht der Aufenthalt im Bundesgebiet verweigert 
werden darf ?). Insbesondere kann ein Staatsangehöriger, derin einem anderen 
Bundesstaat den Unterstützungswohnsitz erworben hat, und dann in hilfs- 
bedürftigem Zustande in seinen Heimatsstaat zurückkehrt, zum Zweck seiner 
  
1) Reichs- und Staatsbeamte dürfen nur in dem Bundesstaat des dienstlichen 
Wohnsitzes zu den direkten Staatssteuern herangezogen werden. Ges. $ 2 Abs. 3. 
2) Die Bestimmung im Freizügigkeitsges. v. 1. Nov. 1867 $ 3 Abs. 2, welche ihrer 
Fassung nach die Deutung zulässt, dass Personen, welche in einem Bundesstaate poli- 
zeilichen Aufenthaltsbeschränkungen unterliegen oder wegen wiederholten Bettelns 
oder wegen wiederholter Landstreicherei innerhalb der letzten 12 Monate bestraft worden 
sind, in jedem andern Bundesstaate, also auch in ihrem Heimats- 
staate, der Aufenthalt verweigert werden darf, ist nach der Absicht des Gesetz- 
gebers dahin zu verstehen, dass der Aufenthalt indem Heimatsstaate nicht 
versagt werden darf. Vgl. Vogt, Jurist. Zeitschr. f. Els.-Lothringen Bd. 14 S. 414 ff. 
Seydel, Hirths Annalen 1890. 8. 173ff. E. Mayer, ebenda 8. 561 ff. — Ueber 
die Verhandlungen, welche darüber im Bundesrat stattgefunden haben, vgl. Cahn 
(3. Aufl.) S. 58 ff., der Bundesratsbeschluss vom 9. Juli 1894 daselbst S. 60 und bei 
RegerBd. 148. 441. 
Laband, Reichsstaatercecht. 6. Aufl. 4
	        
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