60 Vierter Abschnitt: Die Organisation des Reiches. $ 10
liert. Ihm steht es zu, den Bundesrat und den Reichstag zu berufen, zu er-
öffnen, zu vertagen und zu schliessen (Art. 12); er ernennt den Vorsitzenden
des Bundesrats (Art. 15); bringt die Vorlagen im Bundesrat zur Beratung
(Art. 7 Abs. 2); in seinem Namen werden die Beschlüsse des Bundesrates an
den Reichstag gebracht (Art 16); ihm steht die Ausfertigung und die Ver-
kündigung der Reichsgesetze zu (Art. 17).
b) Dem Kaiser liegt die Ueberwachung der Ausführung der Reichsgesetze
ob (Art. 17, 36 Abs. 2) und teils die Reichsverf. selbst, teils eine bedeutende
Anzahl von Reichsgesetzen ermächtigen ihn zum Erlass von Verordnungen,
welche zur Ausführung einzelner Reichsgesetze erforderlich sind.
c) Der Kaiser ernennt nach freiem Belieben den Reichskanzler, den ver-
antwortlichen Minister des Reiches, und kann ihn nach freiem Belieben in
den Ruhestand versetzen. Dadurch ist dem Kaiser die oberste Leitung der
Regierung übertragen; er bestimmt die Richtung der Politik, die Zielpunkte
der staatlichen Geschäftsführung des Reiches. Auch die übrigen Reichsbe-
amten werden der Regel nach vom Kaiser ernannt und erforderlichenfalles
entlassen oder in den Ruhestand versetzt (Art. 18).
d) Dem Kaiser liegt die Wahrnehmung der auswärtigen Beziehungen
des Reiches ob; die Aufrechterhaltung des diplomatischen Verkehrs, die
Wahrnehmung der Interessen des Reichs, seiner Mitglieder und seiner An-
gehörigen fremden Staaten gegenüber (Art. 11, 56).
3. Der Kaiser ist der Verwalter der Machtmittel des
Reiches; er hat den Oberbefehl über das Heer und die Kriegsmarine und
kann denselben ausüben teils zur Bekämpfung äusserer Feinde, teils zur Voll-
streckung der Exekution gegen Bundesglieder, welche ihre verfassungsmäs-
sigen Bundespflichten nicht erfüllen (Art. 19); teils zur Aufrechterhaltung
der öffentlichen Sicherheit im Innern, wenn dieselbe in einem Teile des Bundes-
gebiets bedroht ist, durch Erklärung desselben in Kriegszustand (Art. 68).
V. Die dem Reiche zustehende Staatsgewalt in Elsass-
Lothringen wird vom Kaiser ausgeübt; sie ist durch den Präliminar-
Frieden vom 26. Februar 1871 Art. 1 von Frankreich auf das Deutsche Reich
übertragen und von diesem durch das RG. vom 9. Juni 1871 $ 3 Abs. 1 dem
Kaiser zur Ausübung delegiert worden. Auch die Schutzgewaltin
dendeutschen Schutzgebieten übt der Kaiser im Namen des
Reiches aus. RG. vom. 17. April 1886 $ 1 (RGBl. S. 75). Diese Rechte des
Kaisers haben einen völlig anderen Charakter als die nach der Reichsverf.
dem Kaiser eingeräumten Präsidialrechte, obgleich er auch die Staatsgewalt
in Els.-Lothringen und die Schutzgewalt in den Schutzgebieten nicht als
Monarch, sondern als Organ des Reichs ausübt. Denn die Präsidialbefugnisse
haben keinen territorialen Charakter. Durch die Regierung des Reichslandes
und der Schutzgebiete hat die Stellung des Kaisers eine territoriale
Fundierung erhalten, welche dem Bundespräsidium der Reichsverfassung
gänzlich fehlt; durch dieses dem Kaisertum hinzugefügte Moment ist die
kaiserliche Gewalt verstärkt worden.