Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

g 11 Der Bundesrat. 67 
  
  
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verpflichten nur diejenigen Staaten, welche ihnen zugestimmt haben; auch 
können sie niemals die Kraft von ‚Rechtssätzen‘“ haben !). 
. 3. Als Organ der Rechtspflege hat der Bundesrat eine vielseitige 
Zuständigkeit. Zunächst vertritt seine Beschlussfassung auf den einzelnen 
Gebieten der Verwaltung in manchen Punkten die Entscheidung eines Ver- 
waltungsgerichtshofes und ist der Sache nach ein Urteil de lege lata ?). So- 
dann involviert der nach Art. 19 der RV. dem Bundesrat zustehende Beschluss, 
dass gegen ein Bundesglied die Exekution vollstreckt werden soll, das Urteil, 
dass das Bundesglied seine verfassungsmässigen Bundespflichten nicht er- 
füllt hat ®). Gemäss Art. 77 der RV. bildet der Bundesrat die oberste Rekurs- 
Instanz, wenn in einem Bundesstaate der Fall einer Justizverweigerung 
eintritt 4). Durch die reichsgesetzliche Ordnung der Gerichtsverfassung hat 
der Art, 77 für das Gebiet der ordentlichen streitigen Gerichtsbarkeit seine 
praktische Bedeutung verloren. Nach Art. 76 Abs. 1 der RV. ist der Bundes- 
rat berufen, „Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesstaaten, sofern 
dieselben nicht privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten 
Gerichtsbehörden zu entscheiden sind, auf Anrufen des einen Teiles zu er- 
ledigen“. Er ist in den von diesem Artikel berührten Fällen an die Stelle 
der Austrägal-Instanz des ehemaligen Bundes getreten. Der Bundesrat 
kann die Urteilsfällung, zu welcher er nach seiner Zusammensetzung wenig 
geeignet erscheint, einem Gerichtshof oder anderen Sachverständigen über- 
tragen 5). An dem eingeholten Urteil wird der Bundesrat eine materielle 
Aenderung nicht vornehmen dürfen; die Rechtskraft des Urteils im staats- 
rechtlichen Sinne aber beruht nicht auf der Autorität des urteilenden Ge- 
richts, sondern auf der verfassungsmässigen Kompetenz des Bundesrates. 
Endlich hat der Bundesrat nach Art. 76 Abs. 2 der RV. die Aufgabe, Ver- 
fassungsstreitigkeiten in solchen Bundesstaaten, in deren Verfassung nicht 
eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt ist ®), auf 
Anrufen eines Teiles gütlich auszugleichen oder, wenn das nicht gelingt, im 
Wege der Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen. Unter Verfassungs- 
streitigkeiten sind nur Streitigkeiten zwischen der Regierung eines Bundes- 
staates und den Landständen, insbesondere Streitigkeiten über das Budget- 
recht zu verstehen. Es folgt dies daraus, dass Art. 76 Abs. 2 auf Art. 1 des 
1) Der Unterschied solcher Vereinbarungen von den auf Grund der verfassungs- 
mässigen Zuständigkeit gefassten Bundesratsbeschlüssen ist vom Reichsgericht in den 
Entscheidungen in Civils. Bd. 40 S. 68 ff. und Bd. 48 S. 84 ff. vollkommen verkannt. 
2) Die Fälle, in welchen der Bundesrat verwaltungsgerichtliche Entscheidungen 
zu fällen hat, siehe in meinem Staatsrecht des D. R. I S. 267 fg. 
3) Vgl. Seydela. a. O. 8. 287. 
4) Der Artikel ist dem Art. 29 der Wiener Schlussakte entnommen. Unter Justiz- 
verweigerung ist die Versagung der gerichtlichen Rechtspflege zu verstehen. 
5) Ein Vorfall dieser Art war die Erledigung des Streites zwischen Preussen und 
Sachsen wegen der Berlin-Dresdener Eisenbahn im Jahre 1877. Um die Urteilsfällung 
wurde das damalige Ober-Appellationsgericht zu Lübeck ersucht. Ein anderes Beispiel 
ist der Streit zwischen Mecklenburg und Lübeck wegen der Hoheitsrechte an der Trave, 
welchen das Reichsgericht als Austrägalgericht durch Urteil v. 21. Juni 1890 entschie- 
den hat. Andere minder wichtige Fälle bei Seydel', Kommentar 8. 407. 
6) Der Sinn dieser Klausel ist/ dass das Reich in das Verfassungsrecht eines Ein- 
zelstaats nicht eingreifen soll, wenn das Landesrecht selbst einen Weg zur Entscheidung 
der Streitigkeit bietet. 
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