Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

70 Vierter Abschnitt: Die Organisation des Reiches. s 11 
  
Durch das Bayr. Schlussprotokoll vom 23. Nov. 1870 Ziff. IX ist jedoch 
Bayern das Recht eingeräumt worden, dass sein Vertreter im Falle der Ver- 
hinderung Preussens den Vorsitz im Bundesrate führe, d. h. dass der -Reichs- 
kanzler nicht befugt ist, mit Uebergehung der bayerischen Bevollmächtigten 
den Vorsitz an einen anderen als einen preussischen Vertreter abzugeben. 
Wenn auf Grund des $ 2 des RG. vom 17. März 1878 ein General-Stellver- 
treter des Reichskanzlers ernannt worden ist, so steht demselben auch der 
Vorsitz und die Geschäftsleitung des Bundesrates zu, falls er Mitglied des 
Bundesrates ist. Indessen ist der Reichskanzler, wenngleich ein solcher 
Generalstellvertreter ernannt ist, doch nicht behindert, den Vorsitz entweder 
selbst zu übernehmen oder ein anderes Mitglied des Bundesrates durch schrift- 
liche Substitution nach Art. 15 der RV. mit dem Vorsitz zu betrauen. 
Die Leitung der Geschäfte, die Ordnung der Sitzungen, die formelle 
Erledigung der Geschäfte, die Abfassung der Protokolle usw. ist näher ge- 
regeltinder Geschäftsordnung. Dieselbe beschliesst der Bundesrat 
selbst 1). Jedes Bundesglied ist befugt, Vorschläge zu machen, und in Vortrag 
zu bringen, und das Präsidium ist verpflichtet, dieselben der Beratung zu 
übergeben (RV. Art. 7 Abs. 2). Die Beschlussfassung erfolgt regel- 
mässig mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen, wobei im Falle der 
Stimmengleichheit die Präsidialstimme den Ausschlag gibt (RV. Art. 7 Abs. 3); 
d.h. diejenige Ansicht ist zum Beschluss erhoben, für welche sich die Stimmen 
Preussens erklärt haben ?). 
Von dem Grundsatz, dass die einfache Stimmenmehrheit entscheidet, 
sind ausgenommen 
1. Veränderungen der Verfassung °). Sie sind abgelehnt, wenn sie 14 
Stimmen gegen sich haben. Art. 78 Abs. 1*). Dass in diesem Artikel unter 
Verfassung nur die Verfassungsurkunde, nicht der gesamte Ver- 
fassungszustand des Reiches zu verstehen ist, unterliegt keinem Zweifel ; ebenso 
unzweifelhaft ist es, dass alle in gesetzlichem Wege erfolgten Veränderungen 
der Verfassungsurkunde ebenfalls nur geändert werden können unter Beob- 
achtung der im Art. 78 Abs. 1 aufgestellten Regel. Aber auch ein Gesetz, 
welches formell den Wortlaut der Verfassungsurkunde unverändert lässt, 
materiell aber eine Abänderung ihres Inhalts bewirkt, welches, wie man zu 
sagen pflegt, materiell verfassungswidrig ist, kann die Sanktion nur erhalten, 
wenn sich im Bundesrat nicht 14 Stimmen gegen dieselbe erklären, da sonst 
die Bestimmung des Art. 78 Abs. 1 eine völlig wirkungslose und illusorische 
wäre. Die Vorfrage, ob der Gesetzesvorschlag eine Veränderung der Ver- 
fassung enthält oder nicht, wird durch einfache Majorität entschieden; denn 
1) Die Geschäftsordnung des Bundesrates ist am 27. Februar 1871 beschlossen, 
aın 26. April 1880 revidiert worden. Sie ist abgedruckt in Triepels Quellensamm- 
lung 8. 227 ff. Ueber die geschäftliche Behandlung von Gesetzentwürfen und sonsti- 
gen wichtigen Vorlagen siehe mein Staatsr. des D. R. I S. 281. 
2) Es ist also unerheblich, welchen Staat der Bevollmächtigte vertritt, der etwa 
auf Grund des Art. 15 Abs. 2 den Vorsitz führt. 
3) Vgl. Wiese, Verfassungsänderungen nach Reichsrecht. Breslau 1906. 
4) Jedoch kann diese Zahl durch die els.-lothr. Stimmen nicht hergestellt werden. 
Siehe unten.
	        
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