78 Vierter Abschnitt: Die Organisation des Reiches. 812
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beiden Kandidaten, welche die meisten Stimmen erhalten haben, eine engere
Wahl statt !). Der Termin für dieselbe wird von dem Wahlkommissar fest-
gesetzt und darf nicht länger als höchstens 14 Tage nach der Ermittlung des
Ergebnisses der ersten Wahl hinausgeschoben werden. Tritt bei der engeren
Wahl Stimmengleichheit ein, so entscheidet das Los, welches durch die Hand
des Wahlkommissars gezogen wird ?2).. Von dem Resultat der Wahl ist der
Gewählte durch den Wahlkommissar in Kenntnis zu setzen und zugleich auf-
zufordern, binnen 8 Tagen über die Annahme der Wahl sich zu erklären und
nachzuweisen, dass er nach Massgabe des Gesetzes wählbar sei. Das Aus-
bleiben einer Erklärung bis zum Ablauf der Frist, sowie die Annahme unter
Protest oder Vorbehalt gilt als Ablehnung; in diesem Falle ist sofort eine
neue Wahl (sogen. Nachwahl) zu veranlassen °).
Die Kosten des Wahlverfahrens werden von den Gemeinden getragen ?).
6. Eine Reihe von Rechtssätzen lässt sich unter dem gemeinsamen Ge-
sichtspunkt zusammenfassen, dass siedie freie Ausübung des Wahl-
rechts sichern sollen. Das Wahlrecht ist kein subjektives, im indi-
viduellen Interesse begründetes Recht, sondern lediglich der Reflex des Ver-
fassungsrechts, so wie das Recht, einer Gerichtsverhandlung als Zuhörer bei-
zuwohnen, nur der Reflex des Grundsatzes von der Oeffentlichkeit der Ge-
richtsverhandlungen ist, oder sowie das ‚Recht zu appellieren‘‘ nur der Reflex
der in der Prozessordnung anerkannten Grundsätze über die Rechtsmittel ist.
Dem Zweck des Reichstages entsprechend ist die Bildung und Zusammen-
setzung desselben in der Art geregelt, dass die Einzelnen unter gesetzlich fest-
gestellten Voraussetzungen und Bedingungen die Möglichkeit haben, an der
Bildung desselben mitzuwirken °). ‚„Wahlberechtigt‘“ ist derjenige, in dessen
Person diese Voraussetzungen zusammentreffen. Das Wahlrecht ist ein Zu-
stand, kein jus quaesitum; es folgt allen Wandlungen des Verfassungsrechtes
und verändert sich mit ihm ohne Rücksicht auf die Zustimmung des einzelnen
Wahlberechtigten. Es kann nicht zum Gegenstand irgend einer Privatver-
fügung gemacht werden, es ist unübertragbar, unveräusserlich, unvererblich.
Auch kann der Wahlberechtigte nicht verlangen, dass Hindernisse, welche
seiner Stimmabgabe entgegenstehen, beseitigt werden, damit er sein Wahl-
recht ausüben könne, z. B. dass er vom Dienst beurlaubt werde. Die Vor-
schriften zur Sicherung der Ausübung des Wahlrechts haben daher in erster
Linie die Tendenz, die verfassungsmässige Organisation des Reichs, das all-
nn
1) Wahlges. $ 12.
2) Wahlregl. $ 32. — 3) Wahlregl. $ 33. 34.
4) Wahlges. $ 16.
5) Jellinek, System der subj. öffentl. R. S. 137 polemisiert sehr nachdrücklich
gegen diese „Auffassung und erklärt das Wahlrecht für ein subjektives, individuelles
Recht; S. 159 aber wird von ihm ausgeführt, „dass die Wahlhandlung niemals In-
halt eines individuellen Rechts sein kann‘ und 8. 160 heißt es: „Das Wahlrecht be-
steht keineswegs in dem Recht zu wählen (!). Das Subjekt dieses Rechts wie das jeder
staatlichen Ernennung ist ausschliesslich der Staat und nur Reflexwirkung ist es, wenn
der einzelne als solcher ein derartiges Recht zu besitzen scheint‘. — Ich verstehe
unter deın Wahlrecht allerdings lediglich ‚das Recht zu wählen“. Die Annahme eines
vom Wahlrecht verschiedenen Rechts des einzelnen ‚auf Anerkennung seiner Eigen-
schaft als Wähler‘ (Tellinek S. 161) ist nach m. Ans. graue Theorie.