Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

892 Vjerter Abschnitt: Die Organisation des Reiches. $ 12 
Legislaturperiode erfolgt durch eine kaiserliche Verordnung, welche nur auf 
Grund eines vom Bundesrate unter Zustimmung des Kaisers (Preussen) ge- 
fassten Beschlusses erlassen werden kann, RV. Art. 24. Wird der Reichstag 
aufgelöst, so müssen innerhalb eines Zeitraumes von 60 Tagen nach der Auf- 
lösung die Neuwahlen stattfinden und innerhalb eines Zeitraumes von 90 Tagen 
nach der Auflösung muss der Reichstag versammelt werden. RV. Art. 521), 
3.Die Verhandlungen des Reichstags sind öffentlich. RV. 
Art. 22 Abs. 1. Ein Ausschluss der Oeffentlichkeit durch Beschluss des 
Reichstages ist unzulässig; eine nicht öffentliche Sitzung hätte nur den Cha- 
rakter einer Privat-Zusammenkunft von Reichstags-Mitgliedern; ein in einer 
solchen Sitzung gefasster Beschluss wäre kein ‚Reichstagsbeschluss‘ im Sinne 
der Verfassung, sondern ein Beschluss von Privatpersonen ?). Es wird dies 
dadurch bestätigt, dass der Art. 79 Satz 2 der Preuss. Verf.-Urkunde in die 
Reichsverfassung nicht aufgenommen worden ist. Wahrheitsgetreue Berichte 
über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von 
jeder Verantwortlichkeit frei. RV. Art. 22 Abs. 2. Strafgesetzb. $ 12. 
4. Die Beschlussfassung des Reichstages erfolgt nach absoluter 
Stimmenmehrheit; im Falle der Stimmengleichheit ist daher der Antrag ab- 
gelehnt. Zur Gültigkeit der Beschlussfassung ist die Anwesenheit der Hälfte 
der gesetzlichen Anzahl (397) der Mitglieder erforderlich, also mindestens 199 
Mitglieder. RV. Art. 28. Diese Verfassungsvorschrift wird aber tatsächlich 
sehr oft verletzt, wenn nicht die Beschlussunfähigkeit ausdrücklich festge- 
stellt wird ?). 
5. „Dem Reichstag steht es zu, seinen Präsidenten, seine Vize- 
präsidenten und Schriftführer zu wählen“. RV. Art. 27. Bis die Wahl er- 
folgt ist, führt interimistisch das älteste Mitglied den Vorsitz *). Die Wahl 
des Präsidenten und von zwei Vizepräsidenten erfolgt das erstemal auf 4 
Wochen, dann für die übrige Dauer der Session. Sie erfolgt durch Stimm- 
zettel nach absoluter Majorität. In den folgenden Sessionen einer Legislatur- 
Periode setzen die Präsidenten der vorangegangenen Session ihre Funktionen 
bis zur vollendeten Wahl des Präsidenten fort und die Präsidentenwahlen 
erfolgen sofort für die ganze Dauer der Session. Die dem Präsidenten oblie- 
gende Tätigkeit, seine Befugnisse, die Geschäftsformen usw. sind in der 
Geschäftsordnung geregelt. Dem Reichstags-Präsidenten steht das Recht zu, 
das für den Reichstag erforderliche Verwaltungs- und Dienstpersonal anzu- 
1) Die RV. hat aus ihrem Vorbilde, der Preuss. Verf., den auf die Stimimnzettelwahl 
nicht passenden Ausdruck: „Die Wähler müssen . .. versammelt werden‘‘ übernommen. 
2) Der $ 36 der Gesch.-Ordn., welcher bestimmt, dass der Reichstag durch einen 
Beschluss die Oeffentlichkeit ausschliessen kann, ist gegenüber dem Art. 22 der RV. 
rechtsunwirksam. Zustimmend SeydelS. 417 fg., auchZornIS.244; siehe nament- 
lichPerels im Arch. f.öff.R. Bd. 15 S. 548 ff. und Autonom. Reichstags. S. 33 ff. 
Diese Ansicht ist in der Literatur die weitaus überwiegende; vgl. die Literaturangabe 
bei Perels 8. 37 Anm. 193. A. A. Meyer, Staatsr. $ 132 Note 24. Schulze, 
Deutsches Staatsr. II S. 85. 
3) Vgl. Perels a. a. O. S. 7T5fg. Abgeordnete, welche sich der Abstimmung 
enthalten, sind mitzuzählen; erforderlich ist nur ihre Anwesenheit während der Abstim- 
mung im Sitzungssaal. 
4) Die Wahl erfolgt, sobald die Anwesenheit einer beschlussfähigen Anzahl von 
Reichstagsmitgliedern durch Namensaufruf festgestellt ist.
	        
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