8 13 Die Reichsbehörden. III. Der Reichskanzler. 89
nungen; er kann daher in wichtigen Angelegenheiten materiell selbst ent-
scheiden und bestimmen, was geschehen soll; seine Verantwortlichkeit hat
einen positiven Inhalt. Bei den rechtsprechenden Behörden erstreckt sich die
Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nur darauf, dass diese Behörden im
Stande sind, ihre Funktionen in verfassungsmässiger Unabhängigkeit auszu-
üben, insbesondere dass die Tätigkeit derselben nicht gestört und gehindert
oder von den Verwaltungsbehörden in gesetzwidriger Weise beeinflusst wird;
dagegen nicht auf den Inhalt der Entscheidungen, für welche ausschliesslich
das geltende Recht massgebend ist; seine Verantwortlichkeit hat einen nega-
tiven Inhalt. Zwischen den verwaltenden und den rechtsprechenden Behörden
gibt es aber noch eine Mittelstufe, die namentlich von einer Anzahl von
Finanzbehörden gebildet wird, welche zwar unter der oberen Leitung des
Reichskanzlers stehen, für einen gewissen Kreis ihrer Amtshandlungen aber
nach Art der richterlichen Behörden selbständig sind und eine unbedingte
Verantwortlichkeit tragen. Hiernach zerfallen die Reichsbehörden in 4 Klas-
sen: 1. Der Reichskanzler. 2. Verwaltungsbehörden. 3. Selbständige Finanz-
behörden, sowie das Patentamt, das Versicherungsamt und das Direktorium
der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte. 4. Richterliche Behörden.
III. Der Reichskanzler !). Derselbe vereinigt in sich eine doppelte
staatsrechtliche Funktion; er ist
1. Preussischer Bevollmächtigter im Bundesrate und
hat als solcher nach Art. 15 der RV. den Vorsitz und die Leitung der Ge-
schäfte des Bundesrates ?). In dieser Eigenschaft ist der Reichskanzler keine
Reichsbehörde, sondern ein Bevollmächtigter des Königs von Preußen.
Nach dieser Bestimmung der Verfassung — der einzigen, welche der Entwurf
der Norddeutschen Bundesverfassung über die Stellung des Bundeskanzlers
enthielt — war der Kanzler, wie Fürst Bismarck in der Sitzung des Reichs-
tags vom 5. März 1878 sagte, ‚einfach das, was man in Frankfurt in bundes-
täglichen Zeiten einen Präsidialgesandten nannte, der seine Instruktionen von
dem preussischen Minister der auswärtigen Angelegenheiten zu empfangen
hatte und der nebenher das Präsidium im Bundesrat hatte‘. Von einer Ver-
antwortlichkeit des Reichskanzlers gegen den Bundesrat und Reichstag für
1) Aus der neueren Literatur über die staatsrechtl. Stellung des Reichskanzlers
sind hervorzuheben Jo&lin Hirths Annalen 1878 S. 402 ff. 761 ff, Hänel, Studien
IL S. 24ff. 31 ff. Henselin Hirths Annalen 1882 S. 1 ff. Preussin der Zeitschr.
f. die ges. Staatswissenschaft 1889 S. 420 ff. Rosenberg, Die staatsr. Stellung des
Reichskanzlers. Strassburg 1889. Laband, Jahrb. d. öff. Rechts I 8. 29 ff. Sey-
del, Kommentar S. 175 fg. Desselben staatsrechtl. Abhandl. Neue Folge. 8.
126 fg. Smendin Hirths Annalen 1906 S. 321 ff. Dambitsch, Konment. S. 315 ff.
2) Es ist die übereinstimmende Ansicht aller Schriftsteller über das Deutsche
Staatsrecht — mit alleiniger Ausnahme einer flüchtigen Bemerkung von v.Martitz,
Betrachtungen S. 49 — gewesen, dass Art. 15 der RV. sich nur auf den Bundesrat be-
zieht und unter der „Leitung der Geschäfte‘, die daselbst neben dem ‚Vorsitz iin Bun-
desrat‘‘ erwähnt wird, die Leitung der Bundesratsgeschäfte zu verstehen sei.
Im Gegensatz hierzu haben Joäöl a. a. O. S. 402 f£., 794 und HenselS.3 ff. dieAn-
sicht zu begründen versucht, dass „Leitung der Geschäfte‘ die Leitung der gesamten
Reichs geschäfte bedeute, also auch die ministeriellen Geschäfte mit umfasse. Diese
Meinung ist aber als irrig dargetan worden von Meyer, Staatsr. $ 135 Note 5 und
besonders von Hänela. a. O. Vgl. auch Seydelin Holtzendorffs Jahrb.
IIT (1879) S. 294, Zorn, Staatsr. I 252; Preuss 8. 433; Reincke, Kommen-
tar S. 154. Smend S. 323 ff.