Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Erster Band. (1)

090 8 9. Die rechtliche Natur des Reiches. 
Redaktion der Grundsätze, über welche man sich bei den Verhand- 
lungen über die Aufnahme der süddeutschen Staaten geeinigt hatte, 
nicht in der Form eines Vertrages sondern in der Form eines Ver- 
fassungsgesetzes erfolgte). 
Man kann sich daher auch nicht auf den Eingang der Verfas- 
sung berufen, um die Vertragsnatur des Reiches darzutun. Derselbe 
konstatiert nur, daß die Gründung des Reiches durch den freien 
ungezwungenen Willen der souveränen Staaten, infolge eines unter 
ihnen abgeschlossenen Vertrages stattgefunden hat?. Man darf aber 
nicht das Rechtsverhältnis, welches zur Gründung des Reiches geführt 
hat, identifizieren mit der Institution, welche durch diese Gründung 
geschaffen worden ist’). 
Wenden wir uns nach dieser Widerlegung entgegenstehender An- 
sichten der positiven Beantwortung der Frage zu, so kommt es gemäß 
unserer obenstehenden Ausführung hierbei darauf an, zu ermitteln, ob 
das Reich selbständige Rechte den Einzelstaaten gegenüber hat. 
Entscheidend sind nicht Umfang und Wichtigkeit der vom Reiche 
gehandhabten Befugnisse, sondern die rechtliche Unabhängigkeit der 
dem Reiche zustehenden Willens- und Rechtssphäre von derjenigen 
der Einzelstaaten. Diese Selbständigkeit ergibt sich aus folgendem: 
1. Das Reich hat zur Herstellung seines Willens eigene Organe, 
welche nicht eine Vereinigung der Willensorgane der Einzel- 
staaten und ebensowenig gemeinschaftliche Organe der Regie- 
rungen und Bevölkerungen der Einzelstaaten sind‘. Ein Beschluß 
des Bundesrats kann nicht vertreten oder ersetzt werden durch einen 
Austausch von übereinstimmenden Erklärungen sämtlicher Einzelstaats- 
Regierungen; ein Beschluß des Reichstages kann nicht vertreten oder 
ersetzt werden durch übereinstimmende Beschlüsse sämtlicher Land- 
tage der Einzelstaaten. Ein in allen deutschen Staaten mit gleichem 
Wortlaut erlassenes Gesetz wird dadurch, daß diese Staaten unterein- 
ander übereinkommen, nur nach gegenseitiger Verständigung und all- 
seitiger Zustimmung dieses Gesetz zu verändern oder aufzuheben, noch 
kein Reichsgesetz und erlangt nicht die Kraft eines solchen; es steht 
1) HänelS. 89. Siehe oben S. 471g. 
2) v. Mohl, Reichsstaatsrecht S. 49; Zorn LS. 58. 
3) Vgl. auch Rosin in Hirths Annalen 1883, S. 303. Die Seydelsche Theo- 
rie ist neuerdings von verschiedenen Gesichtspunkten angegriffen und widerlegt wor- 
den von Le Fur S. 543 ff, v. Stengel in Schmollers Jahrb. XXIJI, S. 1114 ff., 
Rosenberg im Archiv f. öff. R. Bd. 14, S. 329 ff. und Rehm, Allgem. Staatsl. 
S. 127 ff. — Nur an Graßmann hat Seydel einen literarischen Schildknappen. 
4) Der Zollvereinsvertrag vom 8. Juli 1867 nennt im Art. 7 den Bun- 
desrat des Zollvereins „das gemeinschaftliche Organ der Regierungen“ und das Zoll- 
parlament „die gemeinschaftliche Vertretung der Bevölkerungen“. In dem entspre- 
chenden Art. 5 der norddeutschen Bundesverfassung und der jetzigen Reichsverfas- 
sung fehlen diese Charakterisierungen, welche den Zweck hatten, die vertragsmäßige 
Natur des Zollvereins im Gegensatz zu einem staatlichen Organismus hervorzuheben.
	        
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