8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 29
IH. DieSanktion der Reichsgesetze.
1. Der vom Bundesrate und Reichstage festgestellte Entwurf
wird dadurch zum Gesetz erhoben, daß die Befolgung seiner Vor-
schriften befohlen oder angeordnet wird. Jedes Gesetz besteht
demnach aus zwei verschiedenen, auch äußerlich vollkommen von
einander getrennten Teilen, von denen der eine die Regeln selbst, der
andere den Gesetzesbefehl, die Anordnung ihrer Befolgung enthält.
Diese Anordnung kann dem Gesetzesinhalt vorangehen oder nachfolgen.
Die Praxis hat sich im Anschluß an das in Preußen und allen ande-
ren deutschen Staaten beobachtete Verfahren für die Voranstellung
der Sanktionsformel entschieden, welche aus den Worten besteht:
»Wir... verordnen.... was folgt.« Die Sanktionsformel kann aber auch
noch einen anderen Inhalt haben; sie kann zugleich die verfassungs-
mäßige Entstehung des Gesetzes, insbesondere die zwischen dem Bun-
desrate und Reichstage erzielte Uebereinstimmung bezeugen; sie kann
also zugleich Ausfertigungsformel sein. Diese Verbindung ist in der
konstitutionellen Monarchie üblich und in der Natur der Verhältnisse
gegeben, da der Monarch in demselben Akte das Gesetz sanktioniert
und ausfertigt '. In den deutschen Staaten haben daher die Geseize
eine Eingangsformel, welche diesen doppelten Inhalt hat, und der
Norddeutsche Bund sowie das Deutsche Reich haben für die Eingangs-
worte der Gesetze eine Formel angenommen, welche sich an diese
Praxis und insbesondere an die in der preußischen Monarchie her-
kömmliche Fassung anlehnt.
Insoweit die Eingangsworte des Gesetzes Ausfertigungsformel sind,
wird die Bedeutung derselben unten erörtert werden; an dieser Stelle
kommen sie nur als Sanktionserklärung in Betracht.
2. Die wichtigste Frage, welche sich in Betreff der Sanktion er-
hebt, ist die nach dem Organ, welches den Gesetzen die Sanktion
erteilt. Die Eingangsformel der Reichsgesetze scheint darauf eine ein-
fache und zweifellose Antwort zu geben; denn nach ihr ist es der
Kaiser, welcher die Anordnung erläßt. Bei näherer Prüfung erweist
sich diese Annahme aber als unhaltbar und mit den Bestimmungen
der Reichsverfassung nicht vereinbar.
Da die gesetzgebende Gewalt des Staates identisch ist mit der
Staatsgewalt, so ergibt sich, daß nur der Träger der Staatsgewalt Ge-
setzgeber sein, d. h. den Gesetzen die Sanktion erteilen kann. In der
Sanktion der Gesetze kommt der staatliche Herrschaftswille unmittel-
bar zum Ausdrucke. Die Sanktion ist der Kernpunkt des ganzen Ge-
setzgebungsvorganges; alles, was vorher auf dem Wege der Gesetz-
gebung geschieht, ist nur Vorbereitung derselben, Erfüllung von erfor-
derlichen Vorbedingungen; alles, was nachher geschieht, ist notwendige
1) Siehe oben (S. 14, 21).