Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 45 
eines Gesetzes entspreche, und wenn diese Prüfung zu einem vernei- 
nenden Resultate führe, so sei es die Pflicht der Gerichte, sich durch 
die trügerische Bezeichnung nicht irreleiten zu lassen, sondern den 
Erlaß, der in Wahrheit kein Gesetz und nichtig sei, als nichtig zu be- 
handeln. 
Diese Deduktion enthält, wie ihr schon oft entgegengehalten wor- 
den ist, eine petitio principii. Es ist allerdings richtig, daß der Rich- 
ter, bevor er ein (Gresetz anwendet, sich vergewissern muß, daß dieses 
Gesetz existiert; dadurch ist aber nichts für die Frage entschieden, 
durch welche Tatsache für den Richter die Existenz des Gesetzes for- 
mell konstatiert wird. Das Argument beweist aber, wie falsche Gründe 
so oft, zu viel. Nicht nur der Richter, sondern jeder Beamte hat 
bei seiner Amtstätigkeit die Gesetze anzuwenden und folglich zu un- 
tersuchen, welche Gesetze verbindliche Kraft haben. Jeder Beamte 
haftet für die Gesetzmäßigkeit seiner Amtsführung; für die Reichs- 
beamten ist dieser Satz durch $ 13 des Reichsbeamtengesetzes aus- 
drücklich anerkannt’). Derselbe Grund, welcher für das Prüfungs- 
recht der Gerichte geltend gemacht wird, führt daher zu dem Schluß, 
daß jede Behörde das verfassungsmäßige Zustandekommen eines 
Gesetzes untersuchen müßte, bevor sie das Gesetz zur Anwendung 
bringt?). Aber nicht nur die Behörden und Beamten, sondern alle 
unter der Herrschaft der Gesetze lebenden Personen müssen die Ge- 
setze befolgen und bei ihren Rechtsgeschäften und bei allen Hand- 
lungen und Unterlassungen nach den bestehenden Gesetzen sich rich- 
ten. Der Grundsatz ignorantia juris nocet macht es Jedem ohne Aus- 
nahme zur Pflicht, zu prüfen, welche Gesetze bestehen. Wer einen 
sich als Gesetz ausgebenden Erlaß, dem keine Gesetzeskraft zukommt, 
als Gesetz ansieht und darnach handelt, kann die Folgen einer Ge- 
setzesverletzung auf sich laden, insofern er diejenigen Gesetze verletzt, 
welche er durch jenen Erlaß irrtümlich für aufgehoben erachtet. Die 
Frage wird daher ganz falsch und in vollkommen irreführender Weise 
gestellt, wenn man sie auf das richterliche Prüfungsrecht der 
Verfassungsmäßigkeit der Gesetze richtet. Die Frage ist vielmehr die, 
ob es überhaupt formelle Kriterien gibt, an welchen die rechts- 
wirksame Existenz eines Gesetzes erkannt werden kann, oder ob ein 
Gesetz nur dann Geltung hat, wenn materiell alle für das Zustande- 
kommen eines Gesetzes gegebenen Regeln befolgt sind. Ein Gesetz 
kann nicht zugleich für die Gerichte unverbindlich und für alle an- 
deren Behörden und Untertanen verbindlich sein, sondern es kann 
nur absolut, d. h. für Alle, die unter seiner Herrschaft stehen, entwe- 
der gültig oder ungültig sein. Es bedarf keiner Ausführung, welche 
1) Vgl. oben Bd. 1, S. 476 ff. 
2) Dies wird auch von v. Martitz, Betrachtungen S. 132 und von Bluntschli, 
Allgemeines Staatsrecht S. 133, Note 2 hervorgehoben. Vgl. auch Oetker, Lebens- 
erinnerungen von Friedr. Oetker Bd. 3, Kassel 1885, Beilage II, S. 641g.
	        
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