Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

86 8 58. Die Rechtsverordnungen des Reiches. 
hinsichtlich der Verordnung der Doppelsinn durch die Theorie von 
der Teilung der Gewalten und ihre historische Bedeutung für das 
moderne Staatsrecht entstanden !). 
Der materielle Begriff der Verordnung ergibt sich aus dem 
Gegensatz zum materiellen Gesetzesbegriff. Da das Gesetz die Anord- 
nung einer Rechtsregel ist, so muß die Verordnung im Gegensatz zum 
Gesetze einen anderen Inhalt haben; sie enthält keinen Rechtssatz, 
sondern ist eine Anordnung auf dem Gebiete der Verwaltung, eine 
Ausübung der freien Regierungstätigkeit oder der Gesetzesvollziehung. 
Ihr Anwendungsgebiet ist das von den Gesetzen den Verwaltungsbe- 
hörden freigelassene Feld staatlicher Fürsorge. Die Geschichte lehrt, 
daß die Grenzen zwischen dem Gebiet des Gesetzes und dem der Ver- 
ordnung keine unwandelbaren, ja überhaupt nicht festbestimmte sind. 
Was ursprünglich eine durch Zweckmäßigkeitsrücksichten veranlaßte 
Vorschrift für die Ausübung der den Behörden und Beamten oblie- 
genden Funktionen war, kann ein dauernder und wesentlicher Be- 
standteil der öffentlichen Rechtsordnung eines Staates werden ; es ließen 
sich ohne Mühe zahlreiche Beispiele aus allen Perioden der staatlichen 
Entwicklung und aus allen Gebieten der staatlichen Tätigkeit dafür 
erbringen, daß Einrichtungen, welche gerade zu den wichtigsten Grund- 
lagen des Verfassungsrechtes geworden sind, ihre ursprüngliche Quelle 
in Anordnungen haben, welche lediglich die Tätigkeit der Beamten 
in bestimmter Richtung, oft nur versuchsweise und unter dem Druck 
momentaner Verhältnisse, regeln sollten. Man erinnere sich nur an 
die Wandlungen der Heeresverfassung, Finanzverfassung und Rechts- 
pflege im Mittelalter. So lange aber Anordnungen und Einrichtungen, 
welche sich auf die Tätigkeit der verwaltenden Organe des Staates be- 
ziehen, nicht durch Gesetz oder Gewohnheit die Kraft erlangt haben, 
die Verwaltung als solche, d. h. den Staat in seiner verwaltenden Funk- 
tion, in der Art zu binden, daß sie seine Machtbefugnisse gegenüber 
anderen Persönlichkeiten abgrenzen, so lange haben sie nicht den 
Charakter des Rechtssatzes. Eine Verordnung, welche aus Gründen 
der Zweckmäßigkeit den Behörden und Beamten ein gewisses Verhal- 
ten vorschreibt, sich aber innerhalb des Gebietes bewegt, welches die 
Rechtsordnung der freien Erwägung der Regierung überläßt, kann 
und wird den einzelnen Beamten oder Behörden gegenüber vollkom- 
men bindend und verpflichtend sein; für die Verwaltung als Ganzes 
ist sie nicht ein zwingender Befehl einer höheren Macht, sondern 
ein Ausfluß der eigenen Willensbestimmung; sie schafft nicht Recht, 
sondern bewegt sich innerhalb der vom Recht gesetzten Schranken. 
Der Gegensatz von Gesetz und Verordnung im materiellen und ur- 
sprünglichen Sinne entspricht daher vollkommen dem Gegensatz von 
1) Eine Andeutung dieses Gedankens findet sich bei Schmitthenner, 
Grundlinien des Staatsrechts 8 74, S. 302. Vgl. jetzt auch Jellinek S. 84ff., 
122 ff., 366 ff.
	        
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