Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

8 58. Die Rechtsverordnungen des Reiches. 39 
Ausführungsverordnung Rechtsregeln und fällt unter den Begriff der 
Gesetzgebung im materiellen Sinne, im letzteren Falle enthält sie 
Verwaltungsvorschriften und hat mit der Regelung der Rechtsord- 
nung nichts zu tun!) 
II. Es entsteht nun die Frage, ob der Erlaß von Rechtsver- 
ordnungen nach der Reichsverfassung statthaft ist. Bei der Beant- 
wortung derselben ist der Ausgangspunkt gegeben durch den Grund- 
satz, daß Rechtsvorschriften im Wege der Gesetzgebung zu erlassen 
sind. Dieser Grundsatz ist in der Reichsverfassung als selbstverständ- 
lich vorausgesetzt, ebenso wie in der preußischen Verfassungsurkunde 
und der Mehrzahl der konstitutionellen Verfassungen; und er ist auch 
in der Tat selbstverständlich. »Denn die Vertretung des Gesetzes durch 
eine Verordnung ist Abweichung von der verfassungsmäßigen Organi- 
sation und Funktion der gesetzgebenden Faktoren« ?). Wenn für die 
Gesetzgebung verfassungsmäßig eine bestimmte Form vorgeschrieben 
ist, die eben darum die Form oder der Weg der Gesetzgebung heißt, so 
ist die Gestattung einer Abweichung von dieser Regel eine Ausnahme, 
welche durch eine besondere und ausdrückliche Verfassungsbestim- 
mung anerkannt werden muß. So wird insbesondere der im Art. 62 
der preußischen Verfassungsurkunde ausgesprochenen Regel, daß die 
gesetzgebende Gewalt gemeinschaftlich durch den König und durch 
zwei Kammern ausgeübt wird, im Art. 45 der einschränkende Grund- 
satz zur Seite gestellt, daß der König die zur Ausführung der Gesetze 
nötigen Verordnungen erläßt, und im Art. 63 die Befugnis des Königs, 
unter bestimmten Voraussetzungen Verordnungen mit (formeller) Ge- 
setzeskraft zu erlassen, geregelt’). In der Reichsverfassung dagegen 
1) Ein deutliches Beispiel liefert das sogen. Dynamitgesetz vom 9. Juni 1884 
(Reichsgesetzbl. S. 61). Die Vorschriften der 8 1, Abs. 1 und 2 sollen keine Anwen- 
dung finden auf Sprengstoffe, welche vorzugsweise als Schießmittel gebraucht werden. 
Das Reichsgesetz stellt nicht fest, welche Stoffe hierunter fallen; ebensowenig aber 
überläßt es diese Feststellung der interpretativen Tätigkeit der Polizeibehörden und 
Gerichte; sondern es bestimmt $ 1, Abs. 3: „Die Bezeichnung dieser Stoffe erfolgt 
durch Beschluß des Bundesrates.“ Dieser Bundesratsbeschluß vom 13. März 1885 
(Reichsgesetzbl. S. 78) ist ein echtes „Ergänzungsgesetz“; sein Inhalt ist so 
zu denken, als wäre er in das Reichsgesetz selbst eingeschaltet. Dagegen ermächtigt 
8 2 desselben Reichsgesetzes die Zentralbehörden der Bundesstaaten, die zur Aus- 
führung des Gesetzes erforderlichen Vorschriften zu erlassen, d. h. diejenigen Anord- 
nungen zu treffen, welche nach der Behördenorganisation, Polizeieinrichtung usw. 
der Einzelstaaten für die zweckentsprechende Handhabung des Reichsgesetzes 
erforderlich sind. In der Entsch. des Reichsger. Bd. 56 S. 376 heißt es von einer 
Ministerialverordn. „Daß diese Bestimmungen im Rahmen einer Ausführungsvor- 
schrift bleiben, kann keinem Zweifel unterliegen; denn sie ändern oder modifizieren 
das Gesetz nicht, sondern stellen sich nur als eine Maßregel dar, die zu einer ge- 
eigneten Handhabung des Gesetzes und zur Sicherung der Verwirklichung seiner 
Zwecke als geboten oder doch als empfehlenswert erscheinen konnte“. 
2) Hänel, Studien II, S. 64. 
3) Diese bisher in der gesamten staatsrechtlichen Literatur allgemein als selbst- 
verständlich und zweifellos anerkannten Grundsätze sind angefochten worden von
	        
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