110 & 74. Das Eisenbahnwesen.
gelegenheiten im uneingeschränkten Vollbesitz aller Hoheitsrechte.
Die alte Bundesverfassung legte den Bundesgliedern in dieser Be-
ziehung gar keine Verpflichtungen auf, und der Bundestag, welcher »ge-
meinnützige« Einrichtungen nur mit Einstimmigkeit sämtlicher Bun-
desglieder beschließen konnte, war außerstande, diesen Mangel zu
beseitigen. Die technischen Bedürfnisse des Eisenbahnbetriebes selbst
nötigten zwar die Eisenbahnverwaltungen, eine gewisse Uebereinstim-
mung in betreff der Konstruktion und Ausrüstung der Eisenbahnen,
der Transportbedingungen und der Fahrpläne einzuführen, und der
»Verein Deutscher Eisenbahnverwaltungen«, welcher sich über alle
deutschen und österreich-ungarischen Staats- und Privatbahnen und
darüber hinaus erstreckte, diente zur Vermittlung, um diese Ueberein-
stimmung, wenigstens in notdürftigem Maße, herzustellen; aber es be-
stand keine rechtliche Verpflichtung, diesem Verbande an-
zugehören und seine Beschlüsse zu befolgen, sondern es war der freie
Wille der Eisenbahnverwaltungen und das eigene Interesse, welches
sie dazu bewog '). Dieser Zustand wurde von der Norddeutschen Bun-
desverfassung als Ausgangspunkt genommen. Das allgemeine Prinzip,
daß den Einzelstaaten alle Hoheitsrechte verblieben sind, soweit nicht
die Bundesverfassung sie einschränkt oder auf den Bund überträgt,
kommt auch hinsichtlich des Eisenbahnwesens zur Anwendung. Die
Norddeutsche Bundesverfassung ließ die Einzelstaaten, solange nicht
ein Reichsgesetz eine Aenderung herbeiführte, im Besitz der ihnen
bisher zustehenden Rechte der Gesetzgebung, Verwaltung und Beauf-
sichtigung. Durch den verfassungsberatenden Reichstag wurde sogar
die Fassung des Regierungsentwurfs mehrfach noch in der Richtung
verändert, daß die Einzelstaaten gegen Eingriffe der Bundesorgane
möglichst gesichert werden. Allerdings sollten aber die Zerfahrenheit,
Vielgestaltigkeit und einzelstaatliche Willkür, welche auf dem Gebiete
des Eisenbahnwesens herrschten, im Interesse der Landesverteidigung
und im Interesse des allgemeinen Verkehrs beseitigt werden und es
wurde zu diesem Zwecke die Zuständigkeit des Reichs zur Beaufsich-
tigung des Eisenbahnwesens und zur Gesetzgebung über dasselbe an-
erkannt; zunächst beschränkte sich aber die Norddeutsche Bundes-
verfassung darauf, den Einzelstaaten einige Regeln vorzuschreiben,
welche sie bei der ihnen zustehenden Verwaltung des Eisenbahn-
wesens zu befolgen haben. Diese Anordnungen der Norddeutschen
Staatsr. S. 634 ff. Coermann die deutsche Reichs-Eisenbahngesetzgebung; Berlin,
Guttentag. Eisenbahnrechtl. Entscheidungen und Abhandlungen.
Zeitschr. für Eisenbahnrecht. Herausgegeben vonEger. Dambitsch, Kommentar
S. 524ff. Jagemann, Reichsverf. S. 159 ff. Köhne, Grundriß des Eisenbahnrechts.
Berlin 1906. — Eine Reihe von Artikeln verschiedener Verfasser im Wörterb. des
Staats- und Verw.-Rechts von Fleischmann Bd. IS. 653—705 (1911).
1) Ueber die verschiedenen Eisenbahnverbände, ihre Zwecke und ihre geschicht-
liche Entwicklung vgl. Fleck im Wörterb. von v. Stengel-Fleischmann Bad.1
S. 676 ff.