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Bundesverfassung sind in die Reichsverfassung übergegangen; sie ent-
hält demgemäß Bestimmungen von zweifacher Art:
1. Art. 4, Ziff. 8 unterstellt der Beaufsichtigung und Gesetzgebung
des Reiches »das Eisenbahnwesen im Interesse der Landesver-
teidigung und des allgemeinen Verkehrs«. Die Zuständigkeit zur Ge-
setzgebung ist sachlich vollkommen unbeschränkt; räumlich wird nur
für Bayern das im Art. 46 der Reichsverfassung anerkannte Sonder-
recht vorbehalten. Auf Grund dieser Bestimmung ist demnach das
Reich befugt, im Wege der Gesetzgebung das Eisenbahnwesen in allen
Beziehungen einheitlich zu regeln, und zwar sowohl durch ein alle
Zweige des Eisenbahnwesens umfassendes Gesetz als auch durch Spezial-
gesetze über einzelne Teile dieser Materie. Der Autonomie der Ein-
zelstaaten ist verfassungsmäßig kein Teil des gesamten Eisenbahn-
wesens vorbehalten worden'). Die Versuche, ein Eisenbahngesetz
zu erlassen, sind bisher ohne Erfolg geblieben ?); infolgedessen dauert
1) Die Kompetenz des Reiches zur Gesetzgebung in Eisenbahnangelegen-
heiten ist nicht auf die in den Art. 41—47 der Reichsverfassung aufgeführten Gegen-
stände beschränkt; sie normiert sich vielmehr nach Art. 4, Ziff. 8 der Reichsverfassung
und hat demnach, abgesehen von Bayern, keinerlei andere Schranken, als daß sie „im
Interesse der Landesverteidigung und des allgemeinen Verkehrs“ ausgeübt werden
soll. Ob ein solches Interesse vorhanden sei, können nur die zur Mitwirkung an der
Gesetzgebung berufenen Organe des Reiches entscheiden. Auch sogenannte Lokal-
bahnen und Sekundärbahnen können für die Landesverteidigung und den allgemeinen
Verkehr von Interesse sein, sind daher verfassungsmäßig der Gesetzgebungsbefugnis
des Reiches nicht unbedingt entzogen. — Ueber das Verhältnis des Art. 4, Ziff. 8 zu
den Art. ALff. der Reichsverfassung ist namentlich hinzuweisen auf die Rede des Abg.
Miquel in der Sitzung des Reichstages vom 21. April 1870 (Stenogr. Berichte
S. 784 ff.); sie ist in den in Betracht kommenden Stellen abgedruckt in Seydels
Kommentar S. 89. Vgl. auch Hänel], S. 637. G. Meyer-Dochow $ 107. Un-
begründet ist die Behauptung von Dambitsch, daß das Recht des Reiches zur
Eisenbahngesetzgebung durch den VlI. Abschnitt der Reichsverf. begrenzt sei; schon
jetzt ist das Reich in Gesetzen und Verordnungen weit über diese Grenzen hinaus-
gegangen.
2) Nachdem der Reichstag wiederholt durch Beschlüsse vom 5. Mai 1869, 21. April
1870 und 14. Juni 1871 den Erlaß eines Reichseisenbahngesetzes angeregt hatte, wurde
von dem Reichseisenbahnamt der Entwurf eines solchen im März 1874 veröffentlicht
und auf Grund der Bemerkungen, welche über denselben eingegangen sind, bis zum
April 1875 umgearbeitet. Er ist vielfach abgedruckt worden, z. B. in Hirths Annalen
1875, S. 1225ff. Vgl. über den Entw. Fischer in v. Holtzendorffs Jahrb. Bd. 4,
S. 446 ff. Der Entwurf fand bei denjenigen Bundesstaaten, welche an der Entwick-
lung des Eisenbahnwesens vorzüglich beteiligt waren, d. h. den Mittelstaaten, einen
so lebhaften Widerspruch, daß davon Abstand genommen - werden mußte, ihn die
Stadien des Gesetzgebungsweges durchlaufen zu lassen. Vgl. den Bericht des Reichs-
eisenbahnamtes über seine Geschäftstätigkeit bis Ende 1876 in Hirths Annalen 1877,
S. 683 ff. Die Wiederaufnahme dieses Versuches steht zurzeit nicht in Aussicht, da
inzwischen die meisten für die Landesverteidigung und den allgemeinen Verkehr
wichtigen Eisenbahnen von Preußen oder von demjenigen Staate, in dessen Gebiet
sie sich befinden, erworben (verstaatlicht) worden sind und dadurch das politische
Interesse an der Regelung des Eisenbahnwesens in Deutschland sich gänzlich ver-
ändert hat.