Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Dritter Band. (3)

& 74. Das Eisenbahnwesen. 111 
Bundesverfassung sind in die Reichsverfassung übergegangen; sie ent- 
hält demgemäß Bestimmungen von zweifacher Art: 
1. Art. 4, Ziff. 8 unterstellt der Beaufsichtigung und Gesetzgebung 
des Reiches »das Eisenbahnwesen im Interesse der Landesver- 
teidigung und des allgemeinen Verkehrs«. Die Zuständigkeit zur Ge- 
setzgebung ist sachlich vollkommen unbeschränkt; räumlich wird nur 
für Bayern das im Art. 46 der Reichsverfassung anerkannte Sonder- 
recht vorbehalten. Auf Grund dieser Bestimmung ist demnach das 
Reich befugt, im Wege der Gesetzgebung das Eisenbahnwesen in allen 
Beziehungen einheitlich zu regeln, und zwar sowohl durch ein alle 
Zweige des Eisenbahnwesens umfassendes Gesetz als auch durch Spezial- 
gesetze über einzelne Teile dieser Materie. Der Autonomie der Ein- 
zelstaaten ist verfassungsmäßig kein Teil des gesamten Eisenbahn- 
wesens vorbehalten worden'). Die Versuche, ein Eisenbahngesetz 
zu erlassen, sind bisher ohne Erfolg geblieben ?); infolgedessen dauert 
1) Die Kompetenz des Reiches zur Gesetzgebung in Eisenbahnangelegen- 
heiten ist nicht auf die in den Art. 41—47 der Reichsverfassung aufgeführten Gegen- 
stände beschränkt; sie normiert sich vielmehr nach Art. 4, Ziff. 8 der Reichsverfassung 
und hat demnach, abgesehen von Bayern, keinerlei andere Schranken, als daß sie „im 
Interesse der Landesverteidigung und des allgemeinen Verkehrs“ ausgeübt werden 
soll. Ob ein solches Interesse vorhanden sei, können nur die zur Mitwirkung an der 
Gesetzgebung berufenen Organe des Reiches entscheiden. Auch sogenannte Lokal- 
bahnen und Sekundärbahnen können für die Landesverteidigung und den allgemeinen 
Verkehr von Interesse sein, sind daher verfassungsmäßig der Gesetzgebungsbefugnis 
des Reiches nicht unbedingt entzogen. — Ueber das Verhältnis des Art. 4, Ziff. 8 zu 
den Art. ALff. der Reichsverfassung ist namentlich hinzuweisen auf die Rede des Abg. 
Miquel in der Sitzung des Reichstages vom 21. April 1870 (Stenogr. Berichte 
S. 784 ff.); sie ist in den in Betracht kommenden Stellen abgedruckt in Seydels 
Kommentar S. 89. Vgl. auch Hänel], S. 637. G. Meyer-Dochow $ 107. Un- 
begründet ist die Behauptung von Dambitsch, daß das Recht des Reiches zur 
Eisenbahngesetzgebung durch den VlI. Abschnitt der Reichsverf. begrenzt sei; schon 
jetzt ist das Reich in Gesetzen und Verordnungen weit über diese Grenzen hinaus- 
gegangen. 
2) Nachdem der Reichstag wiederholt durch Beschlüsse vom 5. Mai 1869, 21. April 
1870 und 14. Juni 1871 den Erlaß eines Reichseisenbahngesetzes angeregt hatte, wurde 
von dem Reichseisenbahnamt der Entwurf eines solchen im März 1874 veröffentlicht 
und auf Grund der Bemerkungen, welche über denselben eingegangen sind, bis zum 
April 1875 umgearbeitet. Er ist vielfach abgedruckt worden, z. B. in Hirths Annalen 
1875, S. 1225ff. Vgl. über den Entw. Fischer in v. Holtzendorffs Jahrb. Bd. 4, 
S. 446 ff. Der Entwurf fand bei denjenigen Bundesstaaten, welche an der Entwick- 
lung des Eisenbahnwesens vorzüglich beteiligt waren, d. h. den Mittelstaaten, einen 
so lebhaften Widerspruch, daß davon Abstand genommen - werden mußte, ihn die 
Stadien des Gesetzgebungsweges durchlaufen zu lassen. Vgl. den Bericht des Reichs- 
eisenbahnamtes über seine Geschäftstätigkeit bis Ende 1876 in Hirths Annalen 1877, 
S. 683 ff. Die Wiederaufnahme dieses Versuches steht zurzeit nicht in Aussicht, da 
inzwischen die meisten für die Landesverteidigung und den allgemeinen Verkehr 
wichtigen Eisenbahnen von Preußen oder von demjenigen Staate, in dessen Gebiet 
sie sich befinden, erworben (verstaatlicht) worden sind und dadurch das politische 
Interesse an der Regelung des Eisenbahnwesens in Deutschland sich gänzlich ver- 
ändert hat.
	        
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