274 8 81. Die Medizinal- und Veterinärpolizei.
Giften, über den Arbeiterschutz und Kinderschutz, über die Unfall-
verhütung bei gewerblichen und staatlichen Betrieben, die Vorschriften
zur Verhütung von Seeunfällen und die Vorschriften der Seemanns-
ordnung, welche zum Schutz der Gesundheit dienen, die Krankenver-
sicherung, die strafgesetzlichen Bestimmungen über Vergehen gegen
das Leben und die Gesundheit, und zahlreiche andere Anordnungen
auf allen Gebieten der Reichszuständigkeit'). Dagegen hat das Reich
auf dem Gebiete der Medizinalpolizei im engeren und eigentlichen
Sinne sich bisher eine große Selbstbeschränkung auferlegt. Die Selbst-
verwaltung der Einzelstaaten hat das Reich völlig unberührt gelassen ;
das Reichsgesundheitsamt ist keine den Medizinalbehörden vorgesetzte
Behörde und hat keine Verwaltungsbefugnisse, sondern nur wissen-
schaftliche und technische Aufgaben. Dagegen hat das Reich auf dem
Gebiet der Medizinalpolizei gesetzliche Vorschriften erlassen und
mehrere Staatsverträge abgeschlossen.
1. Das Impfgesetz vom 8. April 1874 (Reichsgesetzbl. S. 31)?).
Dasselbe führt den Impfzwang ein und legt zur Durchführung des-
selben sowohl den Untertanen wie den Einzelstaaten entsprechende
Pflichten auf.
a) Der Impfung mit Schutzpocken soll unterzogen werden jedes
Kind vor dem Ablauf des auf sein Geburtsjahr folgenden Kalender-
jahrs, sofern es nicht nach ärztlichem Zeugnis die natürlichen Blattern
überstanden hat, und jeder Zögling einer Öffentlichen oder Privat-
schule‘) innerhalb des Jahres, in welchem der Zögling das 12. Lebens-
jahr zurücklegt, sofern er nicht nach ärztlichem Zeugnis in den letz-
ten 5 Jahren die natürlichen Blattern überstanden hat oder mit Er-
folg geimpft worden ist. In der Regel wird daher die Impfung an
jedem Individuum zweimal vorgenommen. Jeder »Impfling« muß in
der Zeit vom 6.—8. Tage nach der Impfung dem impfenden Arzte vor-
gestellt werden und ist, wenn es nach dem Urteil desselben erforder-
lich ist, einer »Nachimpfung« zu unterziehen *). Ueber jede Impfung
1) Dahin gehört z.B. auch das Reichsgesetz vom 19. Mai 1891, betreffend die
Prüfung der Läufe und Verschlüsse der Handfeuerwaffen, sowie die Verordnung vom
25. November 1895 über den Verkehr mit Arzneimitteln (Reichsgesetzbl. S. 455).
2) Ausgaben des Gesetzes mit Erläuterungen von Kranz und Weber (Nörd-
lingen 1875); Jacobi (Berlin 1875); Bach (Dresden 1888); Martini (Leipzig 1894)
und namentlich OÖ. Rapmund (Berlin 1889). Vgl. ferner Jolly in v. Stengels
Wörterbuch I, S. 670 ff.; Uffelmann in Conrads Handwörterbuch IV. S. 559 ff.;
Seydel, Bayerisches Staatsrecht IIL S.71fg.; GalliinStengleins Strafrechtl.
Nebengesetzen 4. Aufl. Nr. 51. 3) Mit Ausnahme der Sonntags- und Abendschulen.
4) Dem Impfzwang unterliegen auch die im Reichsgebiet sich aufhaltenden,
reichsfremden Personen mit alleiniger Ausnahme der Exterritorialen. Andererseits
besteht kein Impfzwang gegen (reichsangehörige oder fremde) Personen, welche erst
nach Zurücklegung des „impfpflichtigen Alters“ in das Bundesgebiet kommen; doch
hat das Reichsgesetz die in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden Bestimmungen
über Zwangsimpfungen bei dem Ausbruch einer Pockenepidemie unberührt gelassen
($ 18, Abs. 1).