402 $ 85. Die Gerichtsbarkeit der Einzelstaaten.
1879), Art. 42ff. ein oberstes Landesgericht in München errichtet hat.
In Wahrheit ist daher $ 8, Abs. 1 nichts anderes als die auf fast
allen Gebieten des Reichsstaatsrechts wiederkehrende clausula baiu-
varica, die Anerkennung eines Sonderrechts Bayerns, nur daß es in
diesem Falle nicht wie sonst mit klaren Worten, sondern in sonder-
barer Verhüllung Ausdruck gefunden hat?) Allein dasselbe ist mit
einer sehr wesentlichen Einschränkung versehen. Die Vorschrift des
8 8, Abs. 1 findet nämlich keine Anwendung auf diejenigen bürger-
lichen Rechtsstreitigkeiten, welche zur Zuständigkeit des Reichsober-
handelsgerichts gehört haben oder welche durch besondere Reichsge-
setze dem Reichsgericht zugewiesen werden °). Das Reichsgesetz vom
20. Februar 1911, Art. I. (Reichsgesetzbl. S. 59) hat jedoch die Ein-
schränkung hinzugefügt: »es sei denn, daß für die Entscheidung im
wesentlichen Rechtsnormen in Betracht kommen, die in Landesge-
setzen enthalten sind.«
Uebrigens gelten die reichsgesetzlichen Vorschriften über das Ver-
fahren, ferner die allgemeinen Anordnungen des Gerichtsverfassungs-
gesetzes und die besonderen das Reichsgericht betreffenden Vorschrif-
ten desselben, soweit dieselben analog anwendbar sind, auch für das
bayerische oberste Landesgericht als Behörde der ordentlichen streitigen
Gerichtsbarkeit *).
1) Gesetz- und Verordnungsbl. 1879, S. 273 ff.
2) Insbesondere bemühen sich die Motive zum Gerichtsverfassungsgesetz S. 24, 25
(Hahn S. 42), durch viele Redensarten die wahre Tendenz des 8 8 zu verdecken.
Treffender sind die Gründe für denselben entwickelt von dem bayer. Justizminister
v. Fäustle in der ersten Beratung im Plenum des Reichstages. Stenogr. Berichte
1874, S. 319 ff. (Hahn S. 260) und besonders in den Verhandlungen der Reichstags-
kommission Protokolle I. Lesung, S. 451 ff. (Hahn S. 659). Solange es im Deutschen
Reich an einem einheitlichen Zivilrecht fehlte, ließ sich die Bestimmung des $ 8
durch sachliche Gründe rechtfertigen. Nachdem aber das Bürgerliche Gesetzbuch
ergangen und das Einführungsgesetz zu demselben Art. 6 in allen bürgerl. Streitig-
keiten, in welchen ein Anspruch auf Grund des Bürgerlichen Gesetzbuchs geltend
gemacht wird, die Entscheidung letzter Instanz dem Reichsgericht zugewiesen hat,
ist die Bedeutung des Bayerischen Obersten Landesgerichts in bürgerlichen Streitig-
keiten erheblich vermindert worden. Dagegen hat $ 9 des Einführungsgesetzes zum
Gerichtsverfassungsgesetz in der Fassung von 1898 gestattet, daß die Verhandlung
und Entscheidung der zur Zuständigkeit der Oberlandesgerichte gehörenden Revisio-
nen und Beschwerden in Strafsachen ausschließlich einem der mehreren Ober-
landesgerichte oder dem obersten Landesgerichte zugewiesen werden dürfen. Das
Gesetz v. 22. Mai 1910, Art. V gestattet, daß in einem Staat, in welchem kein ober-
stes Landesgericht besteht, aber mehrere Oberlandesgerichte errichtet sind, also in
Preußen, die in dem Art. V genannten Entscheidungen an Stelle des Reichsgerichts
einem der Oberlandesgerichte übertragen werden können. Durch Verf. des Justizmin.
v.18. Juni 1910 (J.-M.-Bl. S. 217) sind diese Funktionen dem Kammergericht übertragen.
3) Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz $ 8, Abs. 2. Hinsichtlich
der Entscheidung der Vorfrage, ob das oberste Landesgericht oder das Reichsgericht
zuständig ist, sind die Vorschriften des Gesetzes vom 12. Juni 1869, $ 18 u.20 analog
anzuwenden. Einführungsgesetz zur Zivilprozeßordnung $ 7.
4) Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz $ 10 und dazu die Motive
S. 212 (Hahn S. 185).