Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Vierter Band. (4)

572 $ 131. Die Rechnungskontrolle und Entlastung der Verwaltung. 
nicht bloß materiellen Rechtsvorschriften gegenüber Platz, sondern 
er gilt auch hinsichtlich der in Gesetzesform erlassenen Verwaltungs- 
vorschriften. Von diesem Grundsatz werden insbesondere betroffen 
alle Gesetze, welche den Behörden öffentlich-rechtliche Verpflichtungen 
auferlegen und wegen ihrer Bedeutung für die Ordnung des Staats- 
wesens und für die Durchführung der Staatsaufgaben den Charakter 
des jus cogens haben. Deshalb sind als rechtlich unstatthaft 
anzusehen Niederschlagungen und Befreiungen von Steuern, Abgaben 
und Gebühren außer in den gesetzlich vorbehaltenen Fällen '). 
b) Im Gegensatz dazu stehen diejenigen Gesetze, welche für den 
Staat Ansprüche, aber keine Verpflichtung zur Geltendmachung 
derselben begründen. Aufsolche Ansprüche kann der Staat ebensogut 
verzichten wie der Einzelne, und wenn die Geltendmachung mit Un- 
billigkeit und Härte verbunden wäre und Nachteile für die Betroffenen 
im Gefolge hätte, welche mit dem Interesse des Fiskus an der Durch- 
führung außer Verhältnis stehen würden, so kann die Niederschlagung 
geradezu zum nobile officiam werden. Hierhin gehört das ganze 
privatrechtliche Gebiet des Verwaltungsrechts. Der Anspruch 
auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung oder verspäteter Erfüllung 
eines mit dem Fiskus geschlossenen Vertrages, wegen Zahlung einer 
Konventionalstrafe, eines Pachtgeldes usw. beruht zwar auch auf dem 
Gesetz; aber dieses Gesetz stellt den Anspruch zur Verfügung des 
Berechtigten; es legt ihm nicht die Pflicht zur Geltendmachung auf. 
Demgemäß ist auch der Kaiser als oberster Chef der Reichsverwaltung 
und Vertreter des Reichsfiskus berechtigt, solche Ansprüche nieder- 
zuschlagen ?). Dies gilt nicht nur von vertrags mäßigen Rechten, 
sondern auch von allen anderen privatrechtlichen Ansprüchen, z. B. auf 
Grund dinglicher Rechte, auf Grund testamentarischer Verfügungen, 
namentlich auch von dem Anspruch auf Schadensersatz wegen eines 
Deliktes, sowie von dem Anspruch auf Rückgewährung einer ohne 
Rechtsgrund oder irrtümlich geleisteten Zahlung. Hierhin gehört da- 
her auch der praktisch wichtigste Anwendungsfall der administrativen 
Gnadenakte, der Anspruch gegen Beamte auf Ersatz von Schaden, den 
sie bei der Führung ihres Amtes verursacht haben und auf Ersatz von 
1) Daher können z. B. Portofreiheiten, unentgeltliche Beförderung von telegra- 
phischen Depeschen, Erlaß der Gerichtskosten, Exemtionen von Militärlasten oder 
von Zöllen und Verbrauchsabgaben u. dgl. durch kaiserliche Gnadenakte nicht be- 
willigt werden. Die Zoll- und Abgabengesetze enthalten die Vorschriften, unter 
welchen Voraussetzungen ein Erlaß der Steuer bewilligt werden kann. Die Be- 
willigung des Erlasses ist ein Verwaltungsakt, zu welchem die oberen Steuerbehörden 
zuständig sind;. sie ist eine Anwendung des betreffenden Abgabengesetzes, kein 
Gnadenakt. 
2) Den Behörden dagegen steht in der Regel eine solche Befugnis nicht zu, 
nicht deshalb, weil diese Befugnis die Grenzen der Verwaltung überschritte, sondern 
weil sie nicht zur Kompetenz der Behörden gehört, wofern sie ihnen nicht ausnahms- 
weise übertragen ist.
	        
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