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ihrem schlimmsten Fehler, dem suspensiven Veto des
Kaisers, bewahrt geblieben, dann vielleicht hätte man
Recht gehabt, vor dem neuen Reiche dem deutschen
Staatsbau der Paulskirche den Vorzug zu geben. Jeden-
falls würde dann das deutsche Kaisertum auch im
formell juristischen Sinne mit grösserem Rechte, als es
heute leider der Fall ist, seinen grossen Namen getragen
haben. Doch was dem Kaisertum von 1871 sein ver-
fassungsmässiger Rechtsgrund nicht gibt, das ersetzt
ihm vollauf seine grosse moralische und politische Be-
deutung. Wenn es auch als rein monarchische Staats-
gewalt nicht wieder aufleben konnte, so sichert es doch
ebenso gut, wie es das mächtigste monarchische Staats-
system nur vermocht hätte, dem deutschen Volke den
ihm gebührenden Einfluss im Rate der Völker. Und auch
im inneren deutschen Staatsleben hat die Kaiseridee
sich so kraftvoll erwiesen, dass im Bewusstsein der
Nation jetzt allenthalben der Kaiser als der Mittel-
punkt des gesamten staatlichen Lebens erscheint. Die
im juristischen Sinne grössere Bedeutung des Bundesrats
tritt dagegen wesentlich zurück. Wie so oft ist hier das
formelle Recht der Macht der tatsächlichen Verhältnisse
unterlegen. Man kann das von einem höheren Stand-
punkte aus, als es der des formellen Rechts ist, auch
nicht bedauern. Denn dieGeschichte der letzten 30 Jahre
hat bewiesen, dass das deutsche Kaisertum, gegründet
auf die preussische Hausmacht und das stets bewährte
Hohenzollernsche Pflichtgefühl, seiner Aufgabe ge-
wachsen ist und bleiben wird, „allzeit Mehrer des
Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriegerischen
Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des
Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Frei-
heit und Gesittung“.