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gewollte Wirkungen nur zu häufig den Streiks
auf dem Fuß folgen. Mit der Arbeitslosigkeit des
Streikenden zieht in der Regel in die Arbeiter-
familie die Not ein, die zur wahren Hungersnot
werden kann. Zudem erleidet die Arbeiterfamilie
schwere ideale Verluste, wenn drückende Sorge,
Unzufriedenheit, Unfrieden das Familienleben
stören. Die kleinen Geschäftsleute, die häufig auf
die Arbeitermassen angewiesen sind, verlieren ihre
kaufkräftigen Kunden. Den Unternehmern werden
ebenso wie den Abnehmern und Konsumenten zahl-
reiche Verlegenheiten bereitet. Die soziale Kluft
zwischen Besitzenden und Arbeitenden erweitert und
vertieft sich, da infolge des Kampfes Haß und Er-
bitterung sich tiefer in der Seele festsetzen. Aber all
diese Nachteile beweisen doch nur, daß einzelne, be-
grenzte Volkskreise zeitweilig unter den Folgen eines
Streiks zu leiden hatten, nicht aber daß die Streiks
in ihrer Gesamtheit für die ganze Arbeiterschaft
unnütz gewesen wären, oder daß sie der gesamten
Arbeiterschaft mehr Schaden als Nutzen gebracht
hätten. Der Vorteil, daß der Arbeiterstand heute
durchweg einer höheren Lebenshaltung sich erfreut
und eine menschenwürdige soziale Stellung ein-
nimmt gegenüber den allen christlichen Grundsätzen
Hohn sprechenden Verhältnissen einer liberal-
manchesterlichen Periode, ist neben andern Mo-
menten auch der Tatsache zu verdanken, daß die
Arbeiter sich ihres Koalitions- und Streikrechts
bedient haben. In dieser Beurteilung sind die
angesehensten Nationalökonomen und Wirtschafts-
historiker einig. Bemerkenswert ist das Urteil G.
Schmollers: „Mögen durch die Ausstände beiden
Teilen große Schädigungen zugefügt worden sein,
mag häufig das Publikum durch erhöhte Preise
am meisten gelitten haben, so dürften doch die
unteren Klassen und die Volkswirtschaft sich heute
in schlechterer Lage befinden, wenn wir gar keine
Koalitionsfreiheit erhalten, gar keine Ausstände
erlebt hätten. Die ersteren hätten in der Zeit von
1850 bis 1900 um Milliarden weniger Löhne
eingenommen, sie ständen an Lebenshaltung und
Leistungsfähigkeit heute sicher tiefer, wofür eine
Anzahl etwas billigerer Warenpreise kein Ersatz
wäre; die Unternehmer hätten heute ohne Zweifel
lechnisch und sozial rückständigere Betriebseinrich-
lungen; häufig knüpfte der größte technische Fort-
schritt gerade an Ausstände an. Wir werden sagen
müssen: so ungeheure soziale Anderungen, wie die
Volkswirtschaft und die ganze Gesellschaftsordnung
seit hundert Jahren erlebt, seien nicht ohne Krisen
und Krankheiten möglich gewesen; der übermäßige
Dampf mußte entweichen; ohne das Ventil der
Koalitionsfreiheit hätte er viel zerstörender ge-
wirkt“ (Allg. Volkswirtschaftslehre II 407).
III. Generalstreik. Da in den letzten Jahren
namentlich in sozialistischen Kreisen der General-
streik vielfach Gegenstand von Debatten war, so
sei er auch hier kurz erörtert. Das Wort General=
streik wird in verschiedenem Sinn verstanden. Man
denkt naturgemäß dabei zunächst an einen Streik,
Streik usw.
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der sich durch eine möglichst allgemeine Aus-
dehnung, sei es auf ein ganzes Gewerbe, sei es
auf ein ganzes Land auszeichnet. Indes bei den
Generalstreikdebatten der letzten Jahre dachte man
weniger an einen Streik von besonderer Aus-
dehnung als an einen Streik aus besondern Grün-
den und mit besondern Zielen. Der Streik, der
die politischen Verhältnisse bewußt beeinflussen
will, sich also direkt gegen den Staat wendet, ist
ein Generalstreik, den man richtiger politischen
Massenstreik nennt. Der gewöhnliche Streik sieht
es auf einen ökonomischen Vorteil der Arbeiter
ab, hat allerdings in gewissen Fällen auch auf die
politische Lage der Arbeiterschaft eine nicht direkt ge-
wollte Wirkung, wiez. B.ein Massenstreik der Berg-
arbeiter. Im Generalstreik aber schwebt den Strei-
kenden ein politischer Vorteil als Ziel vor Augen,
in den meisten Fällen Erringung oder Verbesserung
des Wahlrechts; radikal-revolutionäre Theoretiker
stellen auch die Zersprengung des Klassenstaats,
die Diktatur des Proletariats als Ziel hin. Ein
solcher Streik wird auch durch Arbeitsniederlegung
bewirkt und trifft unmittelbar die Unternehmer;
aber auch der Staat ist in Mitleidenschaft gezogen.
Denn es werden in der Regel solche Produktions-
zweige stillgelegt, ohne die das Gemeinwohl längere
Zeit nicht aufrechterhalten werden kann. Auch
eine gewisse Ausdehnung beim Generalstreik macht
die Lage der Gesamtheit bedrohlich. So ist also
die Gesellschaft wie der Staat, der Hüter der Ge-
samtwohlfahrt und allgemeinen Ordnung, durch
den Generalstreik bedroht. Der Generalstreik wird
entweder in der mehr friedlichen Form des De-
monstrations= oder Manifestationsstreiks durch-
geführt oder als Pressionsstreik. In der ersteren
Form will das Proletariat durch Arbeitsnieder-
legung, Massenumzüge und andere Demonstratio-
nen den politischen Machthabern nachdrücklich das
Begehren der Massen zum Bewußtsein bringen
und zugleich auf die Psyche der Gesamtheit drohend
wirken. Beim Pressionsstreik dagegen soll der
Staat direkt zu einer Konzession genötigt werden;
er muß daher auch so lange währen, bis der Staat
oder die Streikenden nachgeben, während der Ma-
nifestationsstreik gewöhnlich von vornherein auf
wenige Tage beschränkt wird. — Die General-
streikidee hat am meisten Nahrung und Förderung
gefunden in anarchistischen Kreisen. Innerhalb
des deutschen und ausländischen Sozialismus war
und ist man verschiedener Meinung. Die einen
sehen in dem Generalstreik den idealen Ausdruck
des Klassenkampfes, ein Mittel, die Umwälzung
der heutigen Wirtschaftsordnung in die sozialisti-
sche herbeizuführen; andere bezeichnen ihn als
Waffe im Emanzipationskampf, die unter Um-
ständen einmal gebraucht werden kann; wieder
andere befürworten lediglich den Demonstrations=
streik; die freien Gewerkschaften endlich lehnen den
Generalstreik in jeder Form und unter allen Um-
ständen ab. Die Bezeichnungen des Generalstreiks
als Generalunsinn, Illusion, Traum, Utopie,