Einleitung >
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Das deutsche Staatsrecht.
(Einl,8$ 7 und 8.)
Die wissenschaftliche Konstruktion des positiven deutschen
Staatsrechtes bietet eigenthümliche Schwierigkeiten dar.
Deutschland bildet seit dem spätern Mittelalter keinen Ein-
heitsstaat mehr. Das deutsche Reich ist zu einem Staatensysteme,
zu einem zusammengesetzten Staate, einer civitas composita, im
Gegensatz zur civitas simplex, geworden. Seitdem hat sich das
Staatsleben des deutschen Volkes stets in cmer doppelten Sphäre
bewegt, ın der des Gesammtstaates und der der Einzelstaaten.
Diesem Umstande musste auch die Wissenschaft des Staatsrechtes
lkechnung tragen. Man unterschied bis zum Jahre 1806 Reichs-
staatsrechtund Territorialstaatsrecht, inähnlicher Weise
von 1815—1866 Bundesrecht und Staatsrecht der Einzelstaaten,
wenn auch dem ersteren mehr ein völkerrechtlicher, als ein wahr-
haft staatsrechtlicher Charakter zukam. Dieser Dualismus be-
steht bis auf den heutigen 'Tag fort. Die Deutschen haben nicht,
wie die Italiener, ihrem nationalen Gedanken ın der Form des Ein-
heitsstaates, sondern in der des Bundesstaates Ausdruck gegeben.
Das deutsche Reich, als Gesammtstaat, lässt eine grosse Anzahl von
Einzelstaaten fortbestehen. Das Reich hat scin Reichsstaatsrecht,
jeder einzelne Staat scın besonderes Landesstaatsrecht.
Neben und unter dem Reichsstaatsrechte giebt es noch heute
fünf und zwanzig Landesstaatsrechte. Diese bilden mit dem Reichs-
staatsrechte das geltende deutsche Staatsrecht der Gegenwart. Eine
wissenschaftliche Darstellung muss beiden Seiten, dem Staatsrechte
des Gesammtstaates, wie dem der Einzelstaaten gerecht werden,
denn die Summe beider bildet erst das vollständige deutsche Staats-
recht. Eine abgesonderte Darstellung des Reichsstaatsrechtes, wie
des Landesstaatsrechtes, hat ihre Berechtigung; aber nur ın der
Verbindung beider zusammengehöriger Sphären findet das staats-
rechtliche Gesammtbewusstsein des deutschen Volkes seinen vollen
entsprechenden Ausdruck, seine wissenschaftliche und praktische
Befriedigung.
Freilich darf die Wissenschaft dabei nie aus den Augen ver-
lieren, dass sie es dabei nicht mit gleichwerthigen Grössen, son-
dern mit ganz verschiedenartig zu behandelnden Stoffen zu thun
hat. Verhältnissmässig einfach ıst die Konstruktion des Reichs-