2% I. Grundbegriffe des allgemeinen Staatsrechtes.
Der Staat als Organismus.
Die ältere deutsche Staatsrechtswissenschaft begnügte sich damit,
die einzelnen staatsrechtlichen Institute aufzuzählen, nebeneinander zu
stellen und mehr statistisch zu beschreiben, als juristisch zu begreifen,
Die Wissenschaft stand damit ganz auf dem Standpunkte des damaligen
Staatslebens. Weder im Reiche, noch im Territorium war der
Staatsgedanke zum Durchbruche gekommen. Vor allem fehlte dem
deutschen Territorialstaatsrechte der Begriff der Staatspersönlichkeit
vollständig. In dieser ganzen Zeit kommt nirgends das Wort »Or-
ganismus«, zur Bezeichnung des Staates vor. Erst in diesem Jahr-
hundert begegnet uns dasselbe bei staatsphilosophischen Schriftstellern,
zuerst wohl bei Fichte und Schelling, offenbar als Anklang
an die Auffassung des Alterthums. Aus den Schriften der Staats-
philosophen pflanzt es sich fort in die Politik und wird end-
lich auch in die Rechtswissenschaft aufgenommen. Es geht so
allgemein in den Sprachgebrauch über, dass im letzten Menschenalter
wohl kein Schriftsteller über den Staat sich ganz davon freigehalten hat.
Erst C. F. v. Gerber, welcher selbst in seinen «Oeffentlichen Rechten«
(1852) noch den Begriff des Organismus der ganzen Konstruktion des
Staatsrechtes zu Grunde gelegt hatte, unterzog \Vort und Begriff »Organis-
mus« in seiner Anwendung auf den Staat einer scharfen Kritik (Grund-
züge des Staatsr. Il. Aufl. 15869, S. 210—219) und gelangte zu dem
Resultate, dass sich mit diesem Worte kein klarer juristischer Begriff
verbinden lasse und dass es deshalb aus dem Staatsrechte ganz zu ver-
bannen sei, während er ihm seine Bedeutung für eine politische Betrach-
tung des Staates nicht absprach. Weiter ging A. Th. van Krieken,
welcher in seiner Schrift » Ueber die sog. organische Staatstheorie «
(Leipzig 1873) die Behauptung aufstellte, dass die sog. organische
Staatstheorie nichts für das Verständniss des Staates geleistet und die
Anwendung des Begriffes » Organismus« auf den Staat gleichmässig aus
politischen, wie aus juristischen Gründen verwerflich sei. Gegen
van Krieken ist OÖ. Gierke in zwei Aufsätzen: »Die Grundbe-
griffe des Staatsrechtes und die neuesten Staatstheorien« (Zeitschr. f.
die gesammte Staatsw., Heft I und II 1874) aufgetreten, welche sich
durch eine tiefe, philosophisch durchdachte Auffassung des Gegenstandes
auszeichnen. Da die Polemik Gerber’s namentlich auch gegen meine
Ausführung » Ueber Prinzip, Methode und System des Staatsrechts «
(Zeitschr. für Staatsr. Bd. I, S. 417 ff.) gerichtet ist, so sei hier folgende
kurze Gegenbemerkung verstattet. Es ist charakteristisch, dass die Ver-
gleichung des Staates mit einem Organismus nur in solchen Zeiten auf-
tritt, wo Staats- und Volksleben in enger Beziehung zu einander stehen,
wo der Volksgeist schöpferisch auf die Gestaltung des Staatslebens zurück-
wirkt. Darum vergleichen die grössten Staatsphilosophen des grie-
chischen Alterthums, Plato und Aristoteles, den Staat mit einem mensch-
heitlichen Organismus. Ihnen folgen darin die römischen Schriftsteller,
besonders Cicero. Dem unstaatlichen Mittelalter, soweit man Aristoteles
nicht wörtlich ausschrieb. sowie der Zeit des deutschen Feudal- und