Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

1. Begriff des Staates. 31 
Patrimonialstaates der letzten Jahrhunderte ist dieser Vergleich völlig 
fremd. Er tritt aber sogleich wie von selbst hervor, seitdem das Volks- 
leben wieder lebendigere Fühlung mit dem Staate gewinnt und man darauf 
ausgeht, auch das Volk wieder selbstthätig am Staate zu betheiligen. 
Diese Thatsache hätte van Krieken, bei einigem historischen Takte, 
schon allein abhalten müssen, den Begriff des Organismus, auch als einen 
politisch verwerflichen, zu verurtheilen. Soviel steht fest, dass das Wort 
» Organismus« ein den Naturwissenschaften entlehntes, auf das Staats- 
leben sinnbildlich übertragenes ist. Bei der Armuth der Sprache ist aber 
eine solche Uebertragung der Bezeichnung physischer Gegenstände auf 
ethische und geistige Verhältnisse unvermeidlich. Allerdings ist mit dem 
» Organismus « in der Staatswissenschaft viel Missbrauch getrieben worden, 
indem man den Staat mit dem menschlichen Körper verglich, die Elemente 
des Staates mit den Gliedern des Körpers, die staatlichen Funktionen mit 
körperlichen Verrichtungen parallelisirte. Gegen jede solche phantastische 
Richtung der organischen Staatslehre hat sich der Verfasser, im Ein- 
klang mit der neueren Wissenschaft, aufs entschiedenste ausgesprochen. 
(Einleitung in das Staatsr. S. 119). Ihm hat der Staat niemals als 
ein Naturprodukt oder als »der Mensch im Grossen«, sondern als ein 
auf den höhern Anlagen des Menschen ruhender sittlicher Organis- 
mus gegolten. Gerade in dieser Auffassung des Staates liegt nach 
unserer Ansicht der grösste politische Fortschritt unseres Jahrhunderts 
im Gegensatze zu der mechanischen Auffassung der vergangenen Jahr- 
hunderte, welche im Staate »eine künstliche, überaus zusammengesetzte 
Maschine« erblickte. \Venn wir in diesem Sinne den Staat als Organis- 
mus bezeichnen, so meinen wir damit, dass der Staat als der lebendige 
Ausdruck des Volksgeistes zu erfassen sei, dass die Staatsthätigkeit sich 
nicht in der Bureaukratie koncentriren dürfe, sondern dass das Volk in 
seinen Gliedern aktiv am Staate betheiligt werden müsse, dass der Staat 
nicht blos eine Summe beherrschter Individuen sei, sondern dass er sich 
in mannigfacher Gliederung von kleinern Organismen zum grössern 
volksbeherrschenden Organismus auferbauen müsse. In dieser Idee 
treffen die werthvollsten Errungenschaften der historischen Schule mit 
der Stein'schen Reformgesetzgebung der Freiheitskriege und den auf 
Selbstverwaltung gerichteten Bestrebungen der Neuzeit zusammen. Wir 
erkennen in diesem organischen Staatsgedanken gerade die eigenthüm- 
lichste Entfaltung des germanischen Volksgeistes und den stärksten Pro- 
test gegen den Mechanismus des absolutistisch-bureaukratischen Staates, 
wie gegen die ebenso mechanische Schablone des französischen Pseudo- 
Liberalismus. Diese uns so wichtige ethisch-politische Seite des organi- 
schen Staatsgedankens verkennt auch Gerber nichtganz, spricht aber dem 
Begriff des »Organismus« jeden juristischen Werth ab und will ihn ganz 
durch den Begriff der Persönlichkeit ersetzen. Allerdings erkennen 
wir in der Auffassung des Staates, als einer selbständigen Persönlichkeit, 
den grössten Fortschritt der neuern Staatsrechtswissenschaft, wodurch 
sich dieselbe erst vollständig von der privatrechtlich-patrimonialen Theorie 
der ältern Publieisten befreit hat. \Vir haben stets es anerkannt, dass 
Gerber, im Gegensatz zu seiner frühern Auffassung, die Persönlichkeit
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.