Full text: Das Völkerrecht.

180 II. Buch. Der völkerrechtliche Verkehr der Staaten im allgemeinen. 
Eine Ausnahme kann nur insoweit zugegeben werden, als 
der geschlossene Vertrag eine bestimmte Rechtslage, sei es aus- 
drücklich, sei es stillschweigend, zur Voraussetzung nimmt und 
diese Rechtslage sich wesentlich verändert. Wenn ein Staat dem 
andern seinen Besitzstand garantiert hat, so kann der Garantie- 
vertrag einseitig gekündigt werden, wenn durch eine Vergrößerung 
des Staatsgebietes des garantierten Staates, etwa durch die Er- 
werbung eines ausgedehnten Kolonialbesitzes, die von dem garan- 
tierenden Staate übernommenen Verpflichtungen wesentlich erhöht 
würden. Dasselbe würde von Zolleinigungen gelten, wenn durch 
Gebietsveränderungen die wirtschaftlichen Verhältnisse des einen 
der vertragschließenden Teile sich wesentlich verschieben. Auch 
Änderungen der Verfassungsform, also Übergang von der monar- 
chischen zur republikanischen Verfassung, würden zur Kündigung 
derjenigen Verträge berechtigen, die gerade im Hinblick auf die beim 
Verträgsschluß bestehende Verfassungsform geschlossen worden sind. 
Von diesen Ausnahmen abgesehen, muß dagegen an dem die 
Grundlage alles Rechts bildenden Satze festgehalten werden: pacta 
sunt servanda. Der Notstand (unten $ 24 IV 3) freilich vermag 
auch hier der Verletzung bestehender berechtigter Interessen den 
Charakter der Rechtswidrigkeit zu nehmen. Darüber hinaus kann 
der Staatsmann, der die Erfüllung vertragsmäßig übernommener 
Verpflichtungen leugnet, sich auf die Politik, nicht aber auf das 
Völkerrecht berufen. ® 
2. Nichterfüllung des Vertrages durch den einen der vertrag- 
schließenden Teile berechtigt den andern zum Bücktritt von dem 
Vertrage. 
Die Rechtfertigung dieses von den meisten Privatrechten ab- 
weichenden Satzes liegt darin, daß das Völkerrecht keinen andern 
Erfüllungszwang als die Gewalt, in letzter Linie den Krieg, kennt, 
dem gegenüber der Rücktritt vom Vertrage für beide Teile das 
kleinere Übel darstellt. 
  
8) Interessante Bemerkungen bei von Bismarok, Gedanken und 
Erinnerungen II 258.
	        
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