86. Die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit. 65
1. Der halbsouveräne Staat besitzt völkerrechtliche Handlungs-
fähigkeit in bestimmten rechtlichen Beziehungen zu den übrigen Staaten,
während sie in andern Beziehungen ausgeschlossen ist; er Ist teilweise
souverän, teilweise nichtsouverän.
Die Handlungsfähigkeit des unter der Oberherrlichkeit eines
andern Staates stehenden Staates ist insoweit ausgeschlossen (und
insoweit ist dieser Staat nicht souverän), als das Recht des ober-
herrlichen Staates reicht, ihn in völkerrechtlichen Beziehungen, so
vor allem im diplomatischen Verkehr, beim Abschluß von Verträgen,
in der Kriegführung und im Friedensschlusse zu vertreten. Soweit
dagegen trotz der Oberherrlichkeit eines andern Staates für den
untergeordneten Staat die Möglichkeit besteht, durch eigne Hand-
lungen sich zu berechtigen und zu verpflichten, soweit besitzt er
völkerrechtliche Handlungsfähigkeit, und ebensoweit auch ist er
völkerrechtliches Rechtssubjekt, ist er souverän. Man pflegt diese
eigenartige Rechtsstellung, in welcher die Souveränität nach ge-
wissen Richtungen hin ausgeschlossen, nach andern dagegen vor-
handen ist, mit dem nicht sehr glücklichen Ausdruck „Halb-
souveränität* zu bezeichnen.
Es handelt sich hier um eine geschichtliche Übergangsstufe
in der Entwicklung, sei es von der völligen Abhängigkeit zur un-
eingeschränkten Selbständigkeit, sei es umgekehrt. Die Rechts-
stellung des halbsouveränen Staates ist daher von Fall zu Fall zu
prüfen und festzustellen. Meist ist die diplomatische Vertretung
dem oberherrlichen Staate vollständig übertragen (Tunis kann Ver-
treter empfangen, aber nicht schicken), das Recht der Kriegführung
auf Verteidigungskrieg beschränkt, das Vertragsrecht dagegen in
nicht rein politischen Beziehungen eingeräumt. So sind an Handels-
verträgen, Literarkonventionen, am Weltpostverein, an Eisenbahn-
und Telegraphen-Übereinkommen auch die halbsouveränen Staaten
regelmäßig beteiligt; Bulgarien hat auch an der Haager Friedens-
tectorat relativement ä la souverainetö intörieure de l’Etat protögd. 1900.
Pillet, R.G. II 584. Boghitchövitch, Halbsouveränität. Administrative
und politische Autonomie seit dem Pariser Frieden (1856). 1903.