s$ 10. Erwerb und Verlust von Staatsgebiet. 87
also die in dem Gebiet geborenen Personen nicht, wenn sie ihren
Wohnsitz nicht mehr in dem Gebiete haben, und sie ergreift auch die
nicht aus dem Gebiet abstammenden Personen, wenn Staatsangehörig-
keit und Wohnsitz bei ihnen zusammentrifft. Maßgebend ist für alle
diese Fragen der Zeitpunkt, in dem der Wechsel der Staatsgewalt
sich vollzieht. Die Treupflicht des Untertanenverbandes trifft alle die-
jenigen nicht, die im Augenblicke des Überganges die Zugehörigkeit
bereits aufgegeben hatten. Der aufgestellte Rechtssatz gilt in gleicher
Weise bei ursprünglichem wie bei abgeleitetem Erwerb).
Es unterliegt keinem Zweifel, daß dieser gegen den Willen der
einzelnen sich vollziehende Wechsel des Staatsangehörigkeit, dieser
Übergang in eine fremde, vielleicht bis dahin feindliche Staatsgewalt mit
großen Härten verknüpft sein kann. Die neuere Staatenpraxis hat sich
daher bemüht, der freien Willensentschließung des einzelnen einen
gewissen Einfluß einzuräumen. Zwei Rechtsgedanken, die dem 19. Jahr-
hundert ihre Entwicklung verdanken, sind der Ausdruck dieses Be-
strebens: das Plebiszit einerseits, die Option andererseits>).
1. Der Erwerb des Gebietes Ist grundsätzlich nicht bedingt durch die Zu-
stimmung seiner Bewohner (Plebiszit).‘)
Das Plebiszit, ein Lieblingsgedanke Napoleons II. und
Cavours, wurde, in bezug auf europäisches Gebiet, angewandt 1860
bei der Abtretung von Savoyen und Nizza an Frankreich auf Grund
des Turiner Vertrags vom 24. März 1860 (Fleischmann 62; Strupp I 274),
bei den neuen Eroberungen Sardiniens von 1860 bis 1870 (2. Oktober
1870 in Rom); 1863 bei der Einverleibung der Ionischen Inseln in
Griechenland. Durch Art.5 des Prager Friedens vom 23. August 1866
(oben S.20) übertrug Österreich auf Frankreichs Wunsch seine Rechte
.an Schleswig-Holstein an Preußen mit der Maßgabe, daß die „Be-
völkerung der nördlichen Distrikte Schleswigs, wenn sie durch freie
Abstimmung den Wunsch zu erkennen gäbe, mit Dänemark vereinigt zu
werden, an Dänemark abgetreten werden sollte“. Diese Vereinbarung,
4) Die Frage ist sehr bestritten. Die französische Regierung vertritt das
reine Abstammungsprinzip, die deutsche Regierung verbindet, abweichend vom
Text, dieses mit dem Wohnsitzprinzip (Abstammung oder Wohnsitz genügt).
In letzterem Sinne auch Lepsius (unten Note 10).
6) Der Gedanke der Evakustion, d. h. der zwangsweisen Verpflanzung
von Bevölkerungsmassen aus einem Gebiet in das andere, ist als durohgreifende
Maßregel während des Krieges oft erörtert worden. Der Durchführung in größe-
rem Umfang stehen unüberwindliche technische wie rechtliche Hindernisse im
Wege.
6) Stoerk, Option und Plebiszit bei Eroberungen und Gebietszessiunen.
1879. Freudenthal, Die Volksabstimmung bei Gebietsabtretungen und Er-
oberungen. 1891. Schönborn (unten $24 Note 1)S. 33. Heilborn, System 112.
Rivier 150. Ullmann 318.