Full text: Das Völkerrecht systematisch dargestellt.

8 22. Die völkerrechtlichen Verträge. 167 
teres zur einseitigen Kündigung berechtigt. Als Rußland während des 
deutsch-französischen Krieges sich von der ihm lästigen Neutralisierung 
deg Schwarzen. Meeres einseitig lossagte, erklärten die auf der Lon- 
doner Konferenz versammelten Mächte ein solches Vorgeben ausdrück- 
lich für völkerrechtswidrig . (unten $ 2641 2). 
Eine Ausnahme kann nur insoweit zugegeben werden, als der 
geschlossene Vertrag eine bestimmte Sachlage, sei es 'ausdrück- 
lich, sei es stillschweigend, zur Voraussetzung nimmt und durch eine 
Änderung dieser Sachlage die übernommene Verpflichtung eine wesent- 
lich drückendere werden würde. Wenn ein Staat dem andern seinen 
Besitzstand garantiert hat, so kann der Garantievertrag einseitig ge- 
kündigt werden, wenn durch eine Vergrößerung des Staatsgebietes des 
garantierten Staates, etwa durch Erwerbung eines ausgedehnten Kolo- 
nialbesitzes, die von dem garantierenden Staate übernommenen Ver- 
pflichtungen wesentlich erhöht würden. Dasselbe würde von Zoll- 
einigungen gelten, wenn durch Gebietsveränderungen die wirtschaft- 
lichen Verhältnisse des einen der vertragschließenden Teile sich wesent- 
lich verschieben. Auch Änderungen der Verfassungsform, also Über- 
gang von der monarchischen zur republikanischen Verfassung und 
umgekehrt, würden zur Kündigung derjenigen Verträge berechtigen, 
dis gerade im Hinblick auf die beim Vertragsschluß bestehende Ver- 
fassungsform geschlossen worden sind. 
Von diesen Ausnahmen abgesehen, muß dagegen an dem die 
Grundlage alles Rechts bildenden Satze festgehalten werden: pacta 
sunt servanda. Der Notstand (unten $ 25 IV 3) freilich, oder, wenn 
man lieber will, das Selbsterhaltungsrecht des Staates, vermag auch 
hier der Verletzung bestehender berechtigter Interessen den Charakter 
der Rechtswidrigkeit zu nehmen. Darüber hinaus kann der Staats- 
mann, der die Erfüllung vertragsmäßig übernommener Verpflichtungen 
ablehnt, sich auf die Politik, nicht aber auf das Völkerrecht berufen. 
2. Nichterfüllung des Vertrages durch den einen der vertragschließenden 
Teile berechtigt den andern zum Rücktritt von dem Vertrage. 
Die Rechtfertigung dieses von den meisten Privatrechten  ab- 
weichenden Satzes liegt darin, daß das Völkerrecht keinen andern 
Erfüllungszwang als die Gewalt, in letzter Linie den Krieg, kennt, dem 
gegenüber der Rücktritt vom. Vertrage für beide Teile das kleinere 
Übel darstellt. 
8. Durch den Krieg, nicht sehon. dureh den Abbruch der diplomatischen 
Beziehungen, werden die zwischen den kriegführenden Staaten bestehenden 
reohtsgeschäftlichen Einzelverträge aufgehoben, soweit sie nicht ganz oder 
in’ einzelnen ihrer Bestimmungen gerade für den Fall des Krieges geschlossen 
worden sind. Die rechtsetzenden Verträge, wie z. B. die Abkommen der beiden
	        
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