232 III. Buch. Die Interessengemeinschaft des völkerrechtl. Staatenverbands.
Zufluchtsstaat ist aber zur Auslieferung nur verpflichtet, soweit
er diese Pflicht ausdrücklich oder etwa durch Einräumung der Meist-
begünstigungsklausel auf sich genommen hat. Dabei ist es völker-
rechtlich ohne Bedeutung, ob in dem einzelnen Staate das Ausliefe-
rungsweser durch besondere Staatsgesetze geregelt ist oder nicht?).
Denn diese Gesetze binden die Staatsgewalt nur nach innen als die
unverrückbare Grundlage der abzuschließenden Verträge; völkerrecht-
lich kommen nur die Verträge’ in Betracht. Die von verschiedenen
Seiten vorgeschlagene Bildung eimes internationalen Auslieferungsver-
bandes#), der für die Verbandsstaaten gemeinsame Grundsätze der Aus-
lieferung festlegen würde, ist von der belgischen Regierung 1911, leider
erfolglos, angeregt worden. Die Voraussetzungen der Auslieferung und
das Auslieferungsverfahren werden gegenwärtig durch eine kaum über-
gehbare Menge von Einzelverträgen geregelt, die, zwischen den ver-
schiedenen Staaten abgeschlossen, nur in den allgemeinen Grund-
zügen übereinstimmen. Nur soweit solche Übereinstimmung sich fest-
stellen läßt, kann von allgemeinen völkerrechtlichen Rechtsnormen
gesprochen werden.
2. Die Auslieferungspflicht erstreckt sich nur auf die In dem Verirage aus-
drücklich aufgezählten oder durch die Eliminationsmethode bezeichneten De-
likte. Ausgenommen sind zumeist, aber durchaus nicht immer, die politischen
Verbrechen.
_ Unter den „Auslieferungsdelikten“ pflegen die leichtern Fälle
zu fehlen: so fahrlässige Vergehen, Zweikampf, manche Sittlichkeits-
delikte, Religionsvergehen, Verletzung militärischer Pflichten (abge-
sehen von. älteren Kartellen), Zoll- und Steuerkontraventionen usw.
Liegt ein in dem Vertrag nicht erwähntes Delikt vor, so ist der Aufent-
haltsstaat zur Auslieferung nicht verpflichtet, wohl aber, soweit poli-
tische Verbrecher nicht etwa eine Sonderstellung genießen (siehe unten),
zu ihr berechtigt. Nach Art.28 des deutsch-türkischen Vertrages kann
der Umfang der Auslieferungsdelikte durch Vereinbarung der beiden Re-
gierungen erweitert werden; politische Verbrechen sind auch hier aus-
genommen.
Der Ausschluß der politischen Verbrechen führt zurück auf ein
3) Auslieferungsgesetze bestehen in Belgien eeit 1833 (abgeändert 1874),
Großbritannien seit: 1870 (abgeändert 1873, 1895), in den Niederlanden und in
Luxemburg seit 1875, in Argentinien seit 1885, im Kongostast: seit 1886, in Peru
seit 1888, in der Schweiz seit 1892, in Kanada seit 1907, in Norwegen seit 1908, in
Brasilien seit 1911, in Rußland seit 1912 (dazu Zeitschrift f. d. ges. Strafrechts-
wissenschaft XXX1III 455, 683).
4) Vgl.v. Liszt, Zeitschrift f.d. ges. Strafrechtswissenschaft II 50 (Straf-
rechtliche Aufsätze und Vorträge, I. Band 1905, S. 90). v. Martitz452. Derselbe,
Rechtshilfe II 767. Verhandlungen der Internat. krim. Vereinigung in Brüssel! 1910
(Mitteilungen Bd. XVII).