$ 38. Die nicht-kriegerische Erledigung der Staatenstreitigkeiten. 273
b) Nach heutiger Rechtsauffassung ist nur die Staatsgewalt selbst
zur Anordnung und zur Durchführung von Repressalien befugt. Da-
gegen wurde im Mittelalter und vereinzelt bis zum Ausgange
des 18, Jahrhunderts dem durch die fremde Staatsgewalt in seinen
Interessen verletzten Staatsangehörigen (bei Justizverweigerung usw.)
durch sogenannte Repressaljenbriefe (lettres de margue) die Be-
fugnis: gegeben, so viel Eigentum den Staatsangehörigen des verletzenden
Staates wegzunehmen, als zur Befriedigung seines Anspruchs notwen-
dig war.
Vielfach wird, so auch in dem von dem Deutschen Reich mit
den mittel- und südamerikanischen Staaten geschlossenen Verträgen,
die Arwendung der Vergeltung ausdrücklich eingeschränkt.
So bestimmte Art. XXXVI des früheren deutschen Freundschafts-
usw. Vertrages mit Costarica vom 18.Mai 1875 (R.G.Bl. 1877 S.13):
„Im Falle, daß einer der vertragenden Teile der Meinung sein sollte,
es sei eine der Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages zu seinem
Nachteile verletzt worden, soll er alsbald eine Auseinandersetzung der
Tatsachen. mit dem Verlangen der Abhilfe und mit den nötigen Ur-
kunden und Belegen zur Begründung seiner Beschwerde versehen, dem
andern Teile zugehen lassen, und er darf zu keinem Akte der Wieder-
vergeltung (actos de represalia) die Ermächtigung erteilen oder Feind-
seligkeiten begehen, so lange nicht die verlangte Genugtuung verweigert
oder willkürlich verzögert wurde.“ Ebenso Art.24 des deutsch-colum-
bischen Freundschafts- usw. Vertrages vom 23. Juli 1892 (R.G.Bl. 1894
S. 471).
c) Der Zweck der Repressalie ist derselbe, wie der der Vergeltung.
Auch sie ist psychischer Zwang, also indirekte Selbsthilfe; sie schädigt
die fremden Staatsangehörigen, um den Willen des fremden Staates
zu beugen. Schon daraus ergibt sich, daß sie sich, wenigstens im
Frieden, niemals gegen Angehörige eines dritten Staates richten darf.
d) Über Repressalien im Kriege vgl. unten $ 39 IV.
8. Direkte Selbsthilfe ist die Intervention, d. h. Anwendung von Gewalt
gegen den fremden Staat selbst zur Durchsetzung eines behaupteten Anspruches
oder zur Abwehr eines drohonden Unrechts.
Von Retorsion und Repressalie unterscheidet sich die Intervention
dadurch, daß sie nicht gegen die fremden Staatsangehörigen, sondern
als militärische oder nichtmilitärische Aktion gegen die fremde Staats-
gewalt selbst sich richtet. Schranken sind dem intervenierenden Staat
nur durch die Gebote der Menschlichkeit, bei Anwendung militärischer
Gewalt auch durch die analog anzuwendenden Normen des Kriegs-
rechts, gezogen. .
Die Intervention kann in einer Kollektivaktion der beteiligten
Mächte oder in der einseitigen Gewaltanwendung durch den ge-
v. Liest, Völkerrecht. 11. Aufl. 18 |