294 IV. Buch. Die Erledigung der Staatenstreitigkeiten.
Militärmächte und denjenigen der kleinen Staaten, die, wie die schwei-
zerischo Eidgenossenschaft, auf die Massenerhebung des Volkes nicht
verzichter. wollten, eine Vermittlung nicht möglich war. Die „Ord-
nung“ bestimmt in Art.2:
„Die Bevölkerung eines nicht besetzten Gebietes, die beim
Herannahen des Feindes aus eigenem Antriebe zu den Waffen
greift, um die eindringenden Truppen zu bekämpfen, ohne Zeit gehabt
zu haben, sich nach Art. 1 zu organisieren, wird als kriegführend be-
trachtet, wenn sie die Waffen offen führt und sie die Gesetze und Ge-
bräuche des Krieges beobachtet.“
Damit ist die nichtorganisierte Massenerhebung anerkannt, aber
nur, solange das Gebiet von der feindlichen Macht noch nicht besetzt
ist, und nur, wenn sie die Gesetze und Gebräuche des Krieges beob-
achtet. Beide Einschränkungen geben zu neuen Zweifeln Anlaß. Kann
eine Ortschaft als besetzt angesehen werden, wenn der Kampf in einer
Straße noch tobt, während andere Teile der Ortschaft bereits fest in
den Händen der vorrückenden Truppen sich befinden? Dürfen etwa
zwar die Bewohner jener Straße, nicht aber die Bewohner die-
ser Ortsteile zu den Waffen greifen? Die Begriffsbestimmung des
„besetzten Gebietes in 8 42 der Landkriegsordnung versagt hier
völlig; eine andere ist nicht zu gewinnen. Dann der Hinweis
auf die „Gesetze und Gebräuche des Krieges“: ist von der Landes-
bevölkerung zu erwarten, daß sie diese kennt? Meuchlerische
Tötung und Verwundung ist durch Art.26 der Ordnung ausdrücklich
untersagt (unten III 2b); sie berechtigt mithin zur Bestrafung der
Schuldigen sowie zur Ergreifung der erforderlichen Abwehrmaßregeln.
Aber wo ist die Grenze zwischen jenen verbotenen Handlungen und
dem Angriff aus dem Hinterhalt? Die Ereignisse in Belgien beim
Einmarsch der deutschen Truppen erscheinen, teilweise wenigstens,
in anderem Licht, wenn man die Unklarheit der völkerrechtlichen Be-
stimmungen im Auge behält.
Dazu tritt weiter eine höchst bedauerliche Lücke in der Land-
kriegsordnung. Über die Massenerhebung gegenüber dem bereits
eingedrungenen Feinde sagen die vereinbarten Rechtsregeln
nichts. Und doch ist die Frage von größter Wichtigkeit. Handelt es
sich doch darum, ob der bewaffnete Bürger als Soldat nach Kriegs-
recht oder als Mörder nach gemeinem Strafrecht und Standrecht be-
handelt werden soll. Nur eine Ablehnung der Entscheidung ist es, wenn
die Vertragsmächte in der Einleitung erklären, daß auch in den durch
das Abkommen nicht entschiedenen Fällen nicht die Willkür der mili-
tärischen Befehlshaber, sondern „die Grundsätze des Völkerrechts‘ maß-
gebend sein sollen, „wie sie sich aus den unter gesitteten Staaten gel-
tenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den