$ 44. ._Der Weltkrieg und das Völkerrecht. 363
Mächte eines der Abkommen nicht ratifiziert hat — und dieser Fall
ist fast bei allen in Betracht kommenden gegeben —, so läßt sich
der Schluß nicht ablehnen, daß dieses Abkommen für keinen der
Kriegführenden verbindlich ist®). Verletzungen des Abkommens sind
daher nur dann völkerrechtswidrig, wenn sie einem etwa vorhan-
denen Gewohnheitsrecht zuwiderlaufen. An diesem Ergebnis ändert
auch die Tatsache nichts, daß Kriegführende wie Neutrale, sei es für
die Anklage, sei es für die Verteidigung, sich wiederholt auf dieses
Abkommen bezogen haben. Denn die damit ausgedrückte Anerkennung
beruht auf dem freien Entschluß des Anerkennenden und kann von
ihm jeden Augenblick widerrufen werden.
Das Gesagte gilt auch für die seerechtlichen Abkommen von 1%07.
Damit ist bereits eine Bresche in das Seekriegsrecht gebrochen. Die
Londoner Erklärung von 1909 ist aber als solche überhaupt nicht gel-
tendes Recht geworden. Bei Ausbruch des Krieges haben allerdings
die sämtlichen kriegführenden Mächte erklärt, sich an die Londoner
Deklaration binden zu wollen (oben S.315). Aber diese Erklärung, die
auf dem freien Willen des Erklärenden beruhte, konnte jederzeit wider-
rufen werden; und in der Tat ist dieser Widerruf von seiten Frank-
reichs wie Englands erfolgt (oben 841 Note 2). Damit hat die Londoner
Erklärung aufgehört, zu gelten, soweit sie nicht in das Landesrecht der
Kriegführenden übergegangen ist.
Zwar stellt die einleitende Bestimmung fest, „daß die in den fol-
genden Kapiteln enthaltenen Regeln im wesentlichen“) den allgemein
anerkannten Grundsätzen des internationalen Rechtes entsprechen“.
Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß in einer ganzen Reihe
von Bestimmungen der Erklärung ein Kompromiß zwischen einander
scharf entgegengesetzten Anschauungen enthalten ist, daß also mit
dem Wegfall der Erklärung die alten Gegensätze wieder auflebten. Das
gilt ganz besonders von der englischen Auffassung des Krieges, sowohl
dem Gegner, wie den neutralen Mächten gegenüber (oben 839 V, $421V).
Alle Handlungen Englands, die dus dieser Auffassung hervorgegangen
3) Ebenso v. Liszt, Leipziger Zeitschrift IX 170; Zitelmann, L. A. XXXV
61; Niemeyer, Recht des Unterseebootkrieges (1915) S. 13; Nöldeoke, D.J. Z.
XX1I163 (grundsätzlich); P. Klein, Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern 1916
S. 199; Neumeyer, Annalen des Deutschen Reichs 1917 S. 58; Triepel (oben
Note 1) S.22. Für die gegenteilige Ansicht, außerMüller-Meiningen, Wehberg,
Schönborn, besonders Köhler D. J. Z. XIX 1256, Strupp, N. Z. XXV 301.
Von den Abkommen von 1907 ist das 5. und 13. von England, das 8. und 9.
von Rußland nicht ratifiziert. Serbien und Montenegro sind an keinem der Ab-
kommen von 1907 beteiligt; die Türkei -hat sich auch den Abkommen von
1889 nicht angeschlossen.
4) Der Urtext sagt „en substance“. Daher besser zu übersetzen: „der Sache
nach“. Vgl. Niemeyer, Seekriegsrecht S. 18.