Full text: Das Völkerrecht systematisch dargestellt.

364 IV. Buch. Die Erledigung der Staatenstreitigkeiten. 
sind, können daher, mögen sie auch der alten Rechtsanschauung der 
europäischen Festlandsmächte noch so schroff gegenübertreten, nicht 
ohne weiteres als Verletzungen des auf communis consensus omnium 
beruhenden Völkerrechtes angesehen werden. | 
8. Die Anwendung des Repressalienrechtes hat zu vielfachen, an Zahl und 
Bedeutung während des Krieges steigenden Durchbrechungen der durch das 
Völkerrecht den Kriegführenden gezogenen Schranken geführt. 
Repressalien gegen Repressalien sind zwar grundsätzlich ausge- 
schlossen, da bei Ausübung des Erwiderungsrechtes die Rechtswidrigkeit 
der ergriffenen Maßregel und damit die Voraussetzung entfällt (oben 
838 IV). Die praktische Durchführung dieses Grundsatzes scheitert aber 
meist daran, daB die Rechtswidrigkeit der Kriegshandlung, die zu der 
ersten Repressalie geführt hat, zwischen den Kriegführenden bestritten 
:zu Sein pflegt. So war nach englischer Behauptung die Blockade der 
Nordsse vom 4. November 1914 (oben $ 41 IIl6) Repressalie für angeblich 
rechtswidrige Minenlegungen Deutschlands; dieses antwortete mit der 
Seesperre vom 4. Februar 1915. Darauf folgte als englische Repressalie 
die Unterbindung des gesamten Seehandels zwischen den Neutralen und 
dem Deutschen Reich; und gegen den damit eröffneten Aushungerungs- 
feldzug erwiderte Deutschland schließlich mit dem verschärften Tauch- 
bootkrieg. Eine Kette von „Repressalien‘, deren Eigenschaft als solche 
aber durch die Richtigkeit der englischen Behauptungen vom 4. Novem- 
ber 1914 bedingt ist. Es leuchtet ein, daß durch solche sich häufende 
und verschärfende Maßregeln zwar nicht die theoretische Geltung, - 
wohl aber die praktische Anwendung der völkerrechtlichen Normen 
aufs äußerste geschmälert und der Anschein erweckt werden mußte, 
als würde die Geltung der Normen selbst in Abrede gestellt. 
II. Die Bestandsaufnahme des heute geltenden Völkerrechts weist tiefe und 
weite Lücken auf, die der Krieg in das Völkerrecht gerissen hat; sie zeigt aber 
zugleich, daß von einem „Zusammenbruch des Völkerrechtes‘‘ nicht entfernt 
gesprochen werden kann, daß vielmehr nicht nur die Grundmauern, sondern 
auch große und wichtige Teile des alten Baues stehen geblieben sind. 
Eine solche Bestandaufnahme, die allein die unentbehrliche Grund- 
lage für die Weiterentwicklung des Völkerrechtes zu geben vermag, 
daıf nicht von den wirklichen oder vermeintlichen Verletzungen des 
Völkerrechtes ausgehen; sie hat sich vielmehr die Frage vorzulegen, 
welche von den Rechtsnormen, die am 1.August 1914 in Geltung 
waren. durch den Krieg beseitigt worden, und welche von ihnen trotz 
des Krieges in Geltung geblieben sind. Die Frage geht also dahin: wie 
weit ist heute noch eine gemeinsame Rechtsüberzeu- 
gung zwischen den im Kriege befangenen Mächtegrup- 
pen vorhanden?
	        
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