& 44. Der Weltkrieg und das Völkerrecht. 365
Eine erschöpfende Beantwortung dieser Frage ist nur auf Grund
eingehender Einzeluntersuchungen möglich. Hier muß ich mich damit
begnügen, die Ergebnisse kurz zusammenzufassen.
1. Das gesamte Friedensrecht, mit Einschluß der Bestimmungen über
die friedliche Erledigung swischenstaatlicher Streitigkeiten, ist bestehen ge-
blieben.
Gewiß sind einzelne Gebiete des Friedensrechtes, wie es in den
ersten Büchern meines Systems dargestellt worden ist, von den Ereig-
nissen des Krieges in Mitleidenschaft gezogen worden; man denke an
die Beseitigung der Kapitulationen in der Türkei, an die rechtliche
Stellung Ägyptens und des Suezkanals und anderes mehr. Aber in all
diesen Fragen muß und wird der Friedensvertrag die erforderliche
Neuregelung bringen.
Nur von einer Seite droht den geregelten Friedensbeziehungen der
Staaten eine ernste Gefahr: von der durch die Verbandsmächte ge-
planten Organisierung des Wirtschaftskrieges nach Frie-
densschluß (oben 839 VI3). Es kann aber wohl zuversichtlich
angenommen werden, daß mit dem Aufhören des Waffenkampfes die
wieder über die Schwelle des Bewußtseins tretende Erkenntnis der alle
Staaten verknüpfenden wirtschaftlichen Interessengemeinschaft den
Wirtschaftskrieg verhindern und die Verständigung auch auf diesem
Gebiete herbeiführen wird.
2. In der grundsätzlichen Auffassung des Krieges besteht ein zunächst
unausgleichbarer Gegensatz der Auffassung zwischen den beiden Gruppen der
kriegführenden Mächte.
Auf diesen Gegensatz habe ich bereits oben 839 V und $842IV1 hin-
gewiesen. Mit den nach Millionen von Kämpfern zählenden Volksheeren
und der Organisation der „Heimarmeen‘ von Frauen, Greisen und Kin-
dern ist der Krieg zwischen den staatlichen Streitkräften mehr und
mehr zu einem Krieg der Völker gegeneinander geworden. England
hat, mit seinen Verbündeten, die letzte Folgerung aus dieser Auf-
fassung gezogen, indem es jeden einzelnen, der auf feindlichem Ge-
biete Wohnsitz oder Niederlassung hat, als alien enemy behandelte und
den feindlichen Staatsbürgern auf englischem Boden den Rechtsschutz
entzog. Es ist nicht anzunehmen, daß die Mittelmächte ihre bisherige
Auffassung, daß der Krieg nur gegen die feindlichen Streitkräfte, nicht
aber gegen die friedliche Bevölkerung des feindlichen Staates geführt
werde, zugunsten der englischen Ansicht preisgeben werden. Ob ein
Kompromiß gefunden werden kann, steht dahin. Einstweilen muß mit
dieser klaffenden Lücke im Völkerrecht der nächsten Zukunft gerech-
net werden.
8. Das Landkriegsrecht Ist im wesentlichen bestehen geblieben; das See-
kriegsrecht dagegen ist vollständig zusammengebrochen.