48 I. Buch. Die Rechtssubjekte des völkerrechtlichen Staatenverbands.
8 6. Die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit').
I. Als Glied der Völkerrechtsgemeinschaft besitzt jeder Staat die Rechts-
fähigkeit, d. b. die Fähigkeit, Träger von völkerrechtlichen Rechten und
Pflichten, also völkerrechtliches Rechtssubjekt zu sein.
1. Aber nur dem souveränen Staat kommt die völkerrechtliche Hand-
lungsfählgkeit, d. h. die Fähigkeit, durch eigene Handlungen Rechtswirkungen
zu erzeugen, uneingeschränkt zu.?)
Souveränität, als Eigenschaft des Staates, ist die höchste, nach
außen wie im Innern selbständige, von keinem Höheren abhängige
Herrschermacht (die summa potestas).
a) Die mit ihr gegebene völkerrechtliche Handlungsfähigkeit ist
zunächst als Geschäftsfähigkeit die Fähigkeit, durch selbständig
abgegebene oder entgegengenommene Willenserklärungen (Rechts-
geschäfte) sich zu berechtigen oder zu verpflichten. Sie tritt besonders
hervor: 1. In der Unterhaltung des völkerrechtlichen Verkehrs durch
ständige diplomatische Agenten (jus legationum, aktives und passives
Gesandtschaftsrecht). 2. In der Fähigkeit zum Abschluß von Verträgen,
insbesondere auch von Bündnisverträgen (jus foederum et tractatuum).
3. In dem Recht, Krieg zu führen und Frieden zu schließen (jus belli
ac pacis).
b) Handlungsfähigkeit ist ferner als Deliktsfähigkeit die völ-
kerrechtliche Verantwortlichkeit für rechtswidrige Handlungen.
2. Der halbsouveräne Staat hat nur beschränkte völkerrechtliche Hand-
lungsfähigkeit; er wird in bestimmten völkerrechtlichen Beziehungen durch
einen andern Staat vertreten, während er in den übrigen Beziehungen sich
selbständig berechtigen und verpflichten kann. Vgl. unten III.
8. Die Handlungsfähigkeit wird nicht berührt durch eine Bindung des
Staatswillens, wenn diese nicht einem fremden Staate die Vertretungsbefugnis
überträgt.
Beispiele bieten einstweilen die Einschränkung der Gebietshoheit
durch die sogenannten völkerrechtlichen Servituten (unten $8 III 3),
die Kontrolle der Finanzverwaltung durch dritte Mächte (unten $18 IV);
dig Artikel 27, 35, 44 des Berliner Vertrages von 1878, durch welche
die Freiheit der religiösen Bekenntnisse in Montenegro, Serbien, Ru-
mänien ausgesprochen wurde; die Kongoakte von 1885, welche die
1) Merignhac Il5. Rivier 103. Rorenberg, Annalen des D. Reichs
1905. S. 347.
2) Der in der staatsrechtlichen Literatur geführte Streit, ob die Souveränität
mit dem Staatsbegriff gegeben sei, oder ob man souveräne und nicht oder nur
teilweise souveräne Staaten zu unterscheiden habe, ist für das Völkerrecht ohne
Bedeutung. Hier steht es außer Zweifel, daß es neben der uneingeschränkten
auch eine inden verschiedensten Abstufungen eingeschränkte Handlungsfähigkeit
der Staaten gibt. — Auch das bürgerliche Recht kennt die „beschränkte Ge-
schäftsfähigkeit‘.