Full text: Das Völkerrecht systematisch dargestellt.

8 7. Die Staatsgewalt in ihrer äußeren Unabhängigkeit. 59 
Nebeneinanderbestehens verschiedener Staaten mit gegeneinander ab- 
gegrenzten Herrschaftskreisen, mit gegenseitig anerkanntem Macht- 
bereich. Aus diesem Grundgedanken folgt unmittelbar eine ganze 
Reihe von Rechtssätzen, durch welche Rechte und Pflichten der 
Staaten untereinander bestimmt werden, die keiner besonderen ver- 
tragsmäßigen Anerkennung bedürfen, um bindende Kraft zu besitzen. 
Sie bilden den festen Grundstock des ungeschriebenen Völkerrechts, 
seinen ältesten, wichtigsten, heiligsten Bestand. Da die aus diesem 
Grundgedanken sich ergebenden Rechte ohne weiteres einem jeden 
Staate als Mitglied der völkerrechtlichen Gemeinschaft zukommen, 
werden sie wohl auch als ‚„völkerrechtliche Grundrechte‘ bezeich- 
net!). Und da sie mit dem Begriff des Staates als eines völkerrecht- 
lichen Rechtssubjektes, also eines Gliedes der Völkerrechtsgemein- 
schaft, ohne weiteres gegeben sind, kann man sie auch als „völker- 
rechtliche Persönlichkeitsrechte‘“ bezeichnen (so Heilborn). Soweit 
diese „Grundrechte“ den Gegenstand von besonderen Vereinbarungen 
zwischen zwei oder mehreren Staaten bilden, haben diese entweder 
lediglich deklaratorischen Charakter, oder es handelt -sich um die 
Einzeldurchführung des an sich selbstverständlichen Prinzips. 
2. Die grundsätzliche Gleichberechtigung aller Mitglieder der völ- 
kerrechtlichen Gemeinschaft äußert sich auf den Staatenkongressen in 
dem gleichen Stimmrecht aller Beteiligten und dem Erfordernis der 
Stimmeneinhelligkeit bei allen Beschlüssen. 
Sie wird nicht berührt durch die Rangordnung der Staaten, 
die nicht mehr dem Völkerrecht, sondern der internationalen Courtoisie 
angehört. Die früher häufigen, manchmal erbitterten Rangstreitig- 
keiten werden jetzt bei Staatenkongressen dadurch vermieden, daß für 
die Unterzeichnung von allgemeinen Verträgen die alphabetische Reihen- 
folge nach der französischen Bezeichnung der Staaten festgehalten 
wird. Titeländerungen, die ein Staat oder ein Staatshaupt für 
sich vornimmt, binden andere Staaten nur,-insoweit sie die ihnen mit- 
1) Die Polemik gegen diesen Begriff bei Heilborn, Jellinek, Triepel 
und andern neueren Schriftstellern schießt über das Ziel hinaus. Es handelt 
sich nicht um naturrechtliche Truggebilde, sondern um Rechtsnormen, die nach 
dem Satze des Nichtwiderspruchs’ aus dem Begriff der Völkerrechtsgemeinschaft 
folgen und der Form ausdrücklicher Rechtssatzung nicht bedürfen, weil ohne 
sie ein Völkerrecht überhaupt nicht denkbar wäre. — Vgl. Pillet, Recherches 
sur les droits fondamentaux des Etats dans l’ordre des rapports internat. 1899 
(R.G. V 66, 236; VI 503). de Louter I232. Merignhac I233. Nys II216. 
Ullmann 141 (der nur eine Grundnorm annimmt). Cavaglieri, I diritti 
fondamentali degli Stati nella Societä& Internazionale 1906. Jellinek (oben 
$5 Note2) 315 nimmt nur einen Anspruch auf Unterlassen, also auf Anerkennung 
einer Sphäre freier Betätigung an; dabei ist die positive Bedeutung des Staaten- 
verbandes nicht genügend gewürdigt.
	        
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