8 10. Erwerb und Verlust von Staatsgebiet. 85
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Beispiele für das erstere: der alveus derelictus, die insula in
flumine nata; Deltabildung, Abspülung und Anspülung von Erdteilen
(über diese vgl. den österreichisch-preußischen Vertrag vom 9. Februar
1869). Beispiele für das letztere: Abtretung der Karolinen, der Palau-
inseln und der Marianen von Spanien an das Deutsche Reich durch
Vertrag vom 30.Juni 1899®).
2. Der Erwerb kann ein selbständiger (originärer) oder abgelelteter
(derivativer) sein.
Nur im letzteren Fall ist der erwerbende Staat in einem gewissen
Umfange Rechtsnachfolger des abtretenden, übernimmt mithin, soweit
nichts anderes bestimmt ist, die auf dem abgetretenen Gebiet ruhenden
Rechte und Pflichten (unten $ 24 II). Als selbständige Erwerbsarten
sind besonders zu nennen die Eroberung und die Okkupation. Von
der Okkupation wird unter III noch näher gesprochen werden. Die
Eroberung, sei es eines fremden Staates als Ganzes, sei es eines
Teils seines Gebiets, als originäre Erwerbsart setzt, außer dem Willen
des Siegers zu dauernder Herrschaft, voraus, daß die Staatsgewalt in
dem eroberten Gebiete vollständig niedergeworfen ist. Darin liegt
ihr wichtiger Unterschied von der kriegerischen Besetzung (unten
8 40 VI). Diese löst das Band nicht, das die Angehörigen des Gebietes
an die bisherige Staatsgewalt knüpfte; die Eroberung dagegen macht
sie zu: Angehörigen der erobernden Staates und unterwirft sie in
allen Beziehungen der neuen Staatsgewalt. Die Erklärung, daß ein be-
stimmtes Gebiet als erobert betrachtet werden solle (die Annexion),
ist daher völkerrechtswidrig und rechtsunwirksam, solange die bis-
herige Staatsgewalt auf diesem Gebiete noch militärischen Wider-
stand zu leisten in der Lage ist. Bedenklich war daher die von Eng-
land im Juli 1900, also vor der Niederwerfung des Aufstandes, er-
klärte Annexion der Burenfreistaaten; verfrüht die Erklärung Italiens
vom 5. November 1911 betreffend die Annexion von Tripolis. Die
„Annexion“ kann wirkliche Angliederung an den erobernden Staat sein
oder sich in einer andern Verfügung über das eroberte Gebiet dar-
stellen; so in der Überlassung an einen dritten Staat oder in der Er-
hebung zu einem neuen Staatsgebilde (Gründung des Königreichs Polen
am 5.November 1916).
8. Erwerb und Abtretung von Staatsgebiet kann nur durch den erklärten
Willen der Staatsgewalt erfolgen.
Die Staatsgewalt kann ihre Organe, z. B. die Führer von Kriegs-
schiffen oder die Leiter von Forschungsunternehmungen, beauftragen,
im Namen des Staates den Erwerbsakt zu vollziehen;-sie kann aber
auch den von den genannten Personen ohne solchen Auftrag vollzoge-
2) Abgedruckt N.R.G. 2. s. XXXII 66.