Das Reich kein völkerrechtlicher Verein. 17
erscheinenden. Derselbe Einwurf, der gegen die Auffassung der
Reichsverfassung als eines Vertrages erhoben wird, könnte auch
gegen die deutsche Bundesakte vom 10. Juni 1815 erhoben
werden, die unbestritten ein völkerrechtlicher Vertrag war.
Die Ansicht Seydels, daß das Reich nur ein völkerrecht-
licher Verein sei, ist vielmehr aus anderen Gründen unrichtig.
Darin ist allerdings Seydel zuzustimmen, die Verfassung war
und ist ein völkerrechtlicher Vertrag, den souveräne Staaten
abgeschlossen haben, aber — und dies verkennt Seydel — ein
Vertrag, in dem sie sich verpflichteten, auf ihre Souveränität
zu verzichten. Sie verpflichteten sich, der Souveränität eines
neuen Staates, des Norddeutschen Bundes, sich unterzuordnen.
Diese Verpflichtung ist in den Bestimmungen der Verfassung
enthalten, nach welchen das Reichsrecht dem Landesrecht vor-
geht, und das Reich auch gegen den Willen der einzelnen
Staaten durch seine Organe im Wege der Reichsgesetzgebung
seine Verfassung ändern und seine Zuständigkeit ausdehnen
kann. Wären Kaiser und Bundesrat nur Beauftragte der
Staaten, so könnte das Recht der Beauftragten nicht größer
sein als das Recht der Auftraggeber, da in völkerrechtlichen
Verhältnissen — anders als im Privatrecht — der Bevoll-
mächtigte seine Zuständigkeit nur von dem Recht des Auftrag-
gebers ableiten kann. Die Verfassung selbst hat in dem Reiche
eine selbständige Herrschergewalt begründet, der die Bundes-
staaten unterworfen sind. Hätte in dem einzelnen Bundesstaate
die Reichsverfassung nur Rechtsgültigkeit auf Grund des Landes-
rechtes, so könnte ein Landesgesetz sie ihr jederzeit entziehen.
Das völkerrechtliche Vertragsverhältnis stünde unter den Normen
des Völkerrechtes. Jeder der souveränen Staaten wäre berechtigt,
unter den völkerrechtlichen Voraussetzungen durch einseitige
Willenserklärung das Reich aufzulösen, wie Preußen am
14. Juni 1866 die Bundesverträge für aufgelöst erklärt hat.
In der Praxis wie in der Theorie des Völkerrechtes ist es
anerkannt, daß jeder souveräne Staat einen völkerrechtlichen
Vertrag kündigen kann, wenn der andere Kontrahent seine
vertragsmäßigen Pflichten nicht erfüllt. Die Entscheidung
darüber steht aber dem souveränen Staate allein zu. Ist der
Vertrag nicht auf bestimmte Zeit geschlossen, so ist jeder Staat
berechtigt, den völkerrechtlichen Vertrag zu kündigen, wenn die
wesentlichen Voraussetzungen, unter denen er abgeschlossen
ANu# 34: Loening, Reichsverfassung. 2. Aufl. 2