Full text: Grundzüge der Verfassung des Deutschen Reiches.

34 II. Das Reich und die Bundesstaaten. 
ist auf den meisten Gebieten, auf denen das Reich zuständig 
ist, seine Zuständigkeit darauf beschränkt, Gesetze zu erlassen 
und eine Aufsicht zu führen, während den Bundesstaaten es 
zusteht, nach diesen Gesetzen die Verwaltung zu führen und die 
Rechtspflege auszuüben, soweit nicht das Reichsgericht als 
höchstes Gericht in Zivil- und Strafsachen zuständig ist, um 
die Einheit der Rechtsprechung aufrecht zu halten. 
Endlich ist in der Schweiz und noch mehr in der Union 
der Vereinigten Staaten eine jede Verfassungsänderung und 
damit jede Erweiterung der Zuständigkeit sehr erschwert. In 
der Schweiz muß der eine Verfassungsänderung enthaltende 
Beschluß der Bundesversammlung, die aus dem Nationalrat 
und dem Ständerat besteht, sanktioniert werden durch einen 
Beschluß des gesamten Volkes und durch einen Beschluß der 
Kantone. Doch genügt sowohl in den beiden Räten der Bundes- 
versammlung wie bei der Abstimmung des Volkes und der 
Kantone die Zustimmung der absoluten Mehrheit der Stimmenden. 
In der Nordamerikanischen Union dagegen muß ein die Ver- 
fassung ändernder Beschluß des Kongresses sowohl in dem Senate 
wie in dem Repräsentantenhause mit einer Zweidrittel-Mehr- 
heit gefaßt werden und dieser Beschluß muß von drei Vierteln 
sämtlicher Staaten angenommen werden. Dem gegenüber sind 
im Reiche Verfassungsänderungen sehr erleichtert. Es genügt 
hierzu ein Reichsgesetz, sofern nur im Bundesrat nicht 14 Stimmen 
gegen das Gesetz abgegeben worden sind. 
Sind aber die Bundesstaaten im Deutschen Reiche der 
souveränen Reichsgewalt unterworfen und demnach keine sou- 
veränen Staaten mehr, so erhebt sich die Frage, ob sie dann 
überhaupt noch Staaten sind, ob das Merkmal der Souveränität 
nicht zu dem Begriffe des Staates gehört, ob es nichtsouveräne 
Staaten geben könne. Von entgegengesetzten Lagern aus 
wird diese Frage verneint. Mit derselben Entschiedenheit wie 
M. v. Seydel bestreitet H. v. Treitschke die logische Denkbarkeit 
und tatsächliche Möglichkeit eines nichtsouveränen Staates. 
Während aber für Seydel diese Behauptung die Grundlage 
seiner Ansicht bildet, daß das Deutsche Reich nur ein völker- 
rechtlicher Verein souveräner Staaten sei, kommt v. Treitschke 
zu dem entgegengesetzten Schlusse. Nach seiner Ansicht ist nur 
Preußen noch ein souveräner Staat; das Deutsche Reich ist 
der preußisch-deutsche Einheitsstaat, die sogenannten Bundes-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.