Nichtsouveräne Staaten. 35
staaten sind nur Landschaften, denen Preußen eine ausgedehnte
Autonomie und ein weitgehendes Recht der Selbstverwaltung
belassen hat, aber sie sind keine Staaten mehr. Ganz erfüllt
von der patriotischen Leidenschaft, die die Größe, aber auch die
Schwäche dieses unseres ersten politischen Schriftstellers ausmacht,
war Treitschke unfähig, die Gründe seiner Gegner wissenschaft-
lich zu prüfen. Eine Ansicht, die er aus politischen Gründen
für verwerflich hielt, glaubte er auch auf sittlich verwerfliche
Motive der Gegner zurückführen zu müssen. So erklärte er
es für eine sinnlose Behauptung und eine Lüge, wenn von
deutschen Staatsrechtslehrern von dem Katheder herab aus Furcht
vor der Eitelkeit der deutschen Fürsten gelehrt werde, daß es
neben den souveränen Staaten auch nichtsouveräne geben könne.
v. Treitschke mag sich der Schwere des Vorwurfs, den er damit
gegen zahlreiche deutsche Staatsrechtslehrer erhob, kaum bewußt
gewesen sein. Uns aber soll weder die Furcht vor der Eitel-
keit der deutschen Fürsten noch die Furcht vor den leidenschaft-
lichen Zornesworten eines Mannes wie Treitschke abhalten,
die Frage ruhig und rein wissenschaftlich zu prüfen.
Wenden wir uns zunächst an den Sprachgebrauch, so ist
es zweifellos, daß, seitdem in der deutschen Sprache das Wort
Staat in seiner heutigen Bedeutung Bürgerrecht erhielt,
d. h. seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, damit sowohl
souveräne wie nichtsouveräne politische Gemeinwesen bezeichnet
werden. Die reichsständigen Territorien des alten Reiches waren
nichtsouverän, sie waren der souveränen Reichsgewalt nach
formellem Recht untergeordnet. Trotzdem wurden sie allgemein
als Staaten bezeichnet. Die Tributärstaaten der Türkei sind
nichtsouverän. Die Einzelstaaten der Nordamerikanischen Union
find nichtsouverän. Niemand nimmt Anstand sie Staaten zu
nennen. Doch kann der Sprachgebrauch nicht entscheiden.
Er kann vielleicht nur historisch begründet sein und wichtige,
entscheidende Tatsachen übersehen. Aber anderseits ist es auch
unrichtig, wie dies von Seydel und von Treitschke geschieht,
den Begriff des Staates ausschließlich von dem souveränen
Einheitsstaate zu abstrahieren. Damit ist das Ergebnis vorweg-
genommen. Denn dann ist es schon von vornherein feststehend,
daß ein nichtsouveränes Gemeinwesen diesem Begriffe sich nicht
einordnen läßt. Man kann natürlich mit dem Worte Staat
einen bald engeren, bald weiteren Begriff verbinden. Aber
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