Full text: Grundzüge der Verfassung des Deutschen Reiches.

Sonderrechte. 43 
nach der bedeutsamen Reform der Reichsfinanzen, die durch das 
Gesetz vom 3. Juni 1906 durchgeführt worden ist (siehe S. 113 f.), 
ist doch das Reich noch nicht finanziell selbständig und von 
den Beiträgen der Bundesstaaten unabhängig gestellt. 
Im Gegensatze zu den Mitgliedschaftsrechten sind die 
Sonderrechte Priovilegien einzelner Bundesstaaten, die ihnen 
in ihrem Verhältnis zum Reiche zustehen. Die Vorschriften 
der Reichsverfassung, in denen sie begründet sind, können nach 
Art. 78 Abs. 2 der Verfassung nur abgeändert werden mit Zu- 
stimmung des bevorrechteten Bundesstaates. Der Bundesstaat 
aber hat diese Zustimmung zu erteilen, indem er für den eine 
Abänderung bezweckenden Gesetzesentwurf in dem Bundesrate 
seine Stimme abgibt. Besteht auch hierüber eine Verschiedenheit 
der Ansichten nicht, so gehört doch der Abs. 2 des Art. 78 zu 
den Bestimmungen der Verfassung, die zu den meisten Streit- 
fragen, wenigstens in der wissenschaftlichen Literatur, Anlaß 
gegeben haben. Nur die wichtigsten seien in Kürze hier erwähnt. 
Es ward zunächst die Frage aufgeworfen, ob durch ein Landes- 
gesetz rechtsgültig bestimmt werden könne, daß ein Bundesstaat 
nur nach vorheriger Zustimmung des Landtages ein ihm zu- 
stehendes Sonderrecht ausgeben könne. Die Frage ist wohl für 
absehbare Zeit von keiner praktischen Bedeutung, da voraus- 
sichtlich keine deutsche Landesregierung durch ein solches Gesetz 
sich zu binden willens sein wird. Sie ist aber auch nach 
meiner Ansicht zu verneinen. Ein solches Landesgesetz stünde 
im Widerspruch mit der Reichsverfassung, nach der die Bevoll- 
mächtigten des Bundesrates nur von dem Inhaber der Staats- 
gewalt in den Bundesstaaten ernannt werden und nur von 
ihm ihre Aufträge erhalten. Der Inhaber der Landesstaats- 
gewalt, in den Monarchien der Landesherr, kann sich rechtlich 
in Ausübung der Funktionen, die ihm nach der Reichsverfassung 
zustehen, nicht beschränken. Denn Reichsrecht geht vor Landes- 
recht. Wohl aber kann der Landesherr, bevor er den Entschluß 
faßt, ein Sonderrecht seines Staates aufzugeben, die Ansicht 
des Landtages einholen und bei der Fassung seines Entschlusses 
die Stimme des Landtages berücksichtigen. Politisch wird dies 
gewiß in den meisten Fällen ratsam sein, aber einer rechtlichen 
Beschränkung kann sich der Landesherr nicht unterwerfen. 
Praktisch wichtiger ist die andere Streitfrage, welche Rechte 
zu den Sonderrechten gehören, die nur mit Zustimmung des
	        
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