Full text: Grundzüge der Verfassung des Deutschen Reiches.

Art. 78 Abs. 2 der Verfassung. 47 
werden. Wäre dies richtig — und diese Folgerung ist in der 
Tat von angesehenen Schriftstellern gezogen worden —, so 
hätten der Norddeutsche Bund und die süddeutschen Staaten, 
als sie in den Versailler Verträgen von 1870 die Aufnahme 
des in Art. 78 Abs. 2 enthaltenen Rechtssatzes in der Ver— 
fassung vereinbarten, ihren Zweck nur unvollkommen erreicht. 
Es ist unbestritten, daß dieser Zweck dahin ging, den bevor- 
rechteten Bundesstaaten Rechte zuzusichern, die ihnen ohne ihren 
Willen nicht entzogen werden können. Die obige Folgerung 
ist aber nicht richtig. Die Bestimmung des Art. 78 Abs. 2 
findet vielmehr auf sich selbst Anwendung. Auch sie kann nur 
abgeändert oder aufgehoben werden unter Zustimmung aller 
der Staaten, denen die Verfassung Sonderrechte zugesichert 
hat. Mag man dies wiederum als ein Sonderrecht ansehen 
oder nicht — es kommt auf diese theoretische Frage nicht viel 
an —, die Verfassung des Reiches ist, wie früher dargetan, 
ein Vertrag, und nicht nur privatrechtliche, sondern auch völker- 
rechtliche Verträge sind so auszulegen, wie Treue und Glauben 
es erfordern. Die süddeutschen Staaten sind in den Nord- 
deutschen Bund eingetreten und haben ihn zum Deutschen Reich 
erweitert unter der Bedingung, daß ihnen bestimmte Rechte im 
Verhältnis zum Reiche ohne ihren Willen nicht entzogen werden 
dürfen. Diese Bedingung völlig sicherzustellen, dazu ist der 
Absatz 2 des Art. 78 bestimmt. 
  
So bildet die Reichsverfassung den glücklichen Abschluß 
eines jahrhundertelangen Prozesses, der in seinem Verlaufe un- 
sagbares Unglück über das deutsche Volk gebracht hatte. Seit 
dem 13. Jahrhundert begann die Auflösung der Reichseinheit. 
Das Reich zerfiel seit dieser Zeit in eine kaum übersehbare 
Masse von Territorien, von denen nur zwei, ÖOsterreich und 
Brandenburg-Preußen, eine selbständige, in sich gefestete Existenz 
als europäische Staaten zu erringen vermochten. Alle anderen 
Staaten und Staatensplitter verlangten zwar von der Gesamt- 
heit Schutz, aber sie bildeten in sich einen Partikularismus aus, 
der nicht bereit war, für die Gesamtheit Opfer zu bringen und 
dem Gemeininteresse sich unterzuordnen. Im Gefühle ihrer 
Schwäche waren sie von der Furcht beseelt, einem der Groß- 
staaten zur Beute zu fallen, und sie scheuten sich nicht, dem Aus-
	        
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