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Es war von allen diesen Dingen etwas. Aber der eigentliche
Talisman, der ihm so ungemeine Anziehungskraft verlieh, hieß —
Cicero.
Der schwäbische Philologe Nicodemus Frischlin hat den glück-
lichen Einfall gehabt, in einer seiner Kemödien Cäsar und Cicero
aus der Unterwelt zu beschwören und ihrem staunenden Blicke
deutsche Bürgerherrlichkeit vorzuführen. Er versetzt sie nach Straß-
burg, in welchem er den Inbegriff alles Ruhmes sieht, der das übrige
Deutschland schmücke. „Athen scheint mir nach Deutschland aus-
gewandert“, läßt er Cicero bewundernd rufen.
Da muß nun der gepriesene Redner auch über Johannes Sturm
seine Meinung sagen. Er rühmt an ihm
Die große Fülle und die Kraft der Rede,
Des Ausdrucks Fluß und Leichtigkeit; geschmückt
Durch manch gewichtig Wort und wohlverziert
Mit manchem weisen inhaltsvollem Spruch.
Das heißt: Cicero muß an Johannes Sturm rühmen, was die Zeit
an Cicero# selbst zu rühmen gewohnt war. Und Sturm nannte
man den neuen Cicero.
Die Benennung war nicht ungegründet. Wir sehen an Sturm
keinen Mann, der mit tiefen wissenschaftlichen Problemen ringt.
Er ist auch kein Mann von weitem Gesichtskreis. Wo er auf Fragen
einer höheren Ordnung stößt, sinden wir ihn oberflächlich und ge-
wöhnlich. Aber es ist immer eine glänzende Oberflächlichkeit, es ist
immer ein klarer leichtfaßlicher Gedanke in wirkungsvoller Sprache,
was er uns bietet. Und das gerade bedurfte jene Zeit des gesunden
Menschenverstandes. Einfaches Princip und sichere Anwendung,
durchsichtige Entwickelung und bestechende Form, kurz ausgezeichneter
Stul bei mäßigem Inhalt: das machte Cicero groß, das machte
Johannes Sturm berühmt. Und diese innere Aehnlichkeit war der
Hebel für Sturms geistige Existenz. Er fühlte sich von Cicero
angezogen wie von einem wahlverwandten Element. Cicero war
sein begeistertes Studium, die ungewöhnliche Kenntnis Ciceros sicherte