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gierig herbeigestrõmte Publicum. vor sich sieht, bricht er in Thränen
aus und ringt vergeblich nach Fassung. Die Leute gehen schließlich
unwillig nach Hause und sagen, der Prediger habe den Verstand
verloren. Aber bei einem neuen Versuch weiß er seiner Erregung
Herr zu werden und reißt nun seine Zuhörer bis zur Verzückung hin.
Der Gottesfreund hat Tauler erst zu dem volksthümlichen Redner
gemacht, der er war. Brüher hatte er doch die Fesseln der Schule
nicht ganz abgestreift, prunkte mit lateinischen Brocken und erging
sich in schelastischen Distinctionen. Der Gottesfreund verlangte klare
völlige Verständlichkeit und theilte ihm auch einigen reformatorischen
Eifer mit. Tauler muß in seinen Predigten direct für die Gottes-
freunde Propaganda machen, er muß seine persönliche Schüchternheit
überwinden, er muß die ungeschminkte Wahrheit allen Menschen ins
Gesicht sagen und die Laster seines eigenen Standes enthüllen: die
Habsucht und Nachsicht der Beichtväter, die Feigheit der Prediger,
die Fahrlässigkeit der Bischöfe, die Weltlust der Domhemrn, die
Unkeuschheit der Priester und Mönche. Solche Buß- und Rüge-
predigten, später Janz gewöhnlich, hatten damals noch etwas ver-
klüffendes. Taulers erste derartige Rede brachte in der Stadt die
größte Aufregung hervor. Die Dominicaner waren entrüstet, wollten
ihn an einen andern Ort versetzen, und nur der Intervention der
Bürger hatte er es zu danken, daß er überhaupt noch predigen durfte.
Aehnliche Aeußerungen des Unmuths über die Geistlichkeit,
über die Verderbnis von Papst, Cardinälen und Bischöfen finden
sich in dem Hauptwerke des Kaufmanns und Wechslers Rulman
Merswin (geberen 1308, gesterben 1382) zu Straßlurg. Aber
diese Klagen und Kritiken halten sich zu sehr im allgemeinen, um
auch nur ästhetisch irgend welchen Effect zu machen.
Rulman Merswin ist eine Art deutscher Dante, nur in sehr,
sehr verkleinertem Maßstabe, ohne die Bildung, ohne die Schicksale,
ohne die Leidenschaft, ohne die plastische Phantasie des großen
Italieners, aber doch mit venwandten Intentionen.
Sein Buch „von den neun Felsen“ (1352) schildert in der Ferm